Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch

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Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch

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bei solchen Streitgesprächen immer ab und wechselte das Thema: »Das Wasser auf unseren Feldern ist knapp. Man muss dem Churpon Bescheid geben, dass er den Kanal abends länger offen hält.«

      Vater nickte, er würde am nächsten Tag mit ihm reden.

      Nach dem kurzen Zwist lag wieder diese ruhige, beständige Wellenbewegung im Raum, entspanntes Geplauder über die Vorkommnisse des vergangenen Tages.

      Das Abendessen wurde im Sommer spät fertig, denn das Kochen fing erst an, wenn alle Arbeiten auf den Feldern und mit den Tieren erledigt waren. Der lange Tag hatte mich müde gemacht, die Stimmen entfernten sich, ich döste schon ein, bis ich einen kalten Gegenstand in meiner rechten Hand spürte.

      »Komm, Nunu, iss noch etwas Thukpa, dein Magen knurrt so laut wie der Hofhund draußen.«

      Unter Apis Ermunterung schlürfte ich schlaftrunken ein paar Löffel heiße Suppe, und während mir die Augen wieder schwer wurden, hörte ich Mutter sagen: »Habt ihr schon gehört: Der kleine Tundup von der Mon-Familie soll zur Schule gehen. Nun braucht Onkel Angchuk einen anderen Hirten.«

      »Der Junge von einem Trommler geht zur Schule. So ein Unfug, das kann nicht sein«, erwiderte Vater.

      Dann fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

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      Spaziergang in Leh

      Mit pochenden Kopfschmerzen lag Sonja im Bett, während Bilder auftauchten, die sie lange schon aus ihrer Erinnerung verbannt hatte. In diesen Stunden jedoch drängten sich vergessene Szenen, fragil und flüchtig, an den Rand ihres Bewusstseins. Fünfundzwanzig Jahre. Sie hatte tatsächlich lange nicht mehr an ihn gedacht. In der ersten Zeit aber, nach jenem Sommer, hatte sie in einer Endlosschleife die Szenen der wenigen gemeinsamen Wochen vor- und zurückgerollt. Auf der Suche nach einem Hinweis darauf, warum er an jenem Morgen einfach verschwunden war, wie ein Schatten und ohne ein einziges Wort der Erklärung. Nie hatte sie eine Antwort gefunden, und irgendwann war sie des zermürbenden Nachforschens, der fruchtlosen Grübeleien müde gewesen. Wie Zeit die Wahrnehmung verschob! Längst hatte ihre Gefühlslage sich entspannt. Nun aber gestand sie sich widerstrebend ein, dass in all den Jahren, wann immer sie diese Berge betrachtet hatte, ein stummes Echo in ihr mitschwang, ein Nachhall versäumten Glücks.

      Noch bevor das erste Sonnenlicht sich über ihre Bettdecke ergoss, war die Geschichte wieder da. Die Verliebtheit, die ihr Flügel verliehen hatte. Mit Citta zusammen fühlte sie sich ganz, sobald sie getrennt waren, ertrug sie die Sehnsucht kaum. An diesem Morgen sah sie sein Gesicht wieder vor sich, fühlte förmlich seinen weichen, kräftigen Körper.

      Jetzt also trat er wieder in ihr Leben. Unvermittelt und ungefragt. Nach einem Vierteljahrhundert! Mit einem Stapel von Hand beschriebener Seiten, in denen er sein Versprechen einlöste. Ich werde dir mein Leben erzählen, hatte er gesagt und vorsichtig ihre Hand genommen, wenn du das möchtest. Natürlich hatte sie gewollt. Damals. Alles hatte sie wissen wollen von ihm. Jetzt allerdings überlegte sie, ob sie die Briefe einfach wegwerfen sollte. Diese Geschichte war doch bereits abgeschlossen. Aus und vorbei. Hatte sie jedenfalls gemeint.

      Im Widerstreit ihrer Gefühle kämpfte sie gegen den rasenden Puls und das Herzklopfen an, das ihr schier den Atem nahm. Wie sollte sie in diesem Zustand einer heiteren, neugierigen Reisegruppe entgegentreten und ihr dieses wundervolle Land nahebringen?

      Erleichtert fiel Sonja ein, dass Samten an diesem Vormittag die Stadtführung übernahm. Sie musste also nichts weiter tun, als Präsenz zu zeigen. Dafür würde es noch reichen. Schließlich war sie professionell genug, mit der Gruppe das Frühstück einzunehmen und ein paar unverbindlich-freundliche Worte an ihre Teilnehmer zu richten.

      Auf der engen Straße war viel los. Sie mussten hintereinander auf dem schmalen Rand zwischen Asphalt und der tiefen Regenrinne balancieren. Einmal sprang Sonja in einen Ladeneingang, um einem Laster auszuweichen, der keine Armlänge entfernt an ihr vorbeifuhr. Cafés, Restaurants und Souvenirläden säumten den Weg. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie das Stadtzentrum, wo Motorräder, Autos, Menschen in einem heillosen Durcheinander die Straße verstopften. Über einer Gasse hing das Schild »one way road«.

      »Einbahnstraßen auf dem Dach der Welt, das ist wirklich unglaublich«, fand Frau Volkers, »damit habe ich nicht gerechnet.«

      »Gibt es hier keine Ampeln?« Jule schüttelte den Kopf.

      »Doch«, entgegnete Sonja, »eine einzige! Allerdings funktioniert sie nicht.«

      »Die Menschen fahren vorsichtig, weil sie so sanftmütig sind«, schaltete sich Heidrun ein.

      »Eher weil sie miserabel Auto fahren. Aber keine Sorge, unsere Taxifahrer sind Profis. Sie werden uns sicher durch das Land bringen.« Sonja lächelte, gerade in den ersten Tagen war es wichtig, eine gute Atmosphäre in der Gruppe aufzubauen.

      Die Stimmung war entspannt. Man bestaunte den Königspalast, blieb vor Antiquitätenläden stehen und betrachtete in den Schaufenstern religiöse Statuen aus Messing, Pappmachéfiguren, antike und neue Thangkas, bunte Schals, Kleider aus dünner Baumwolle made in India und handgestrickte Mützen aus Schafwolle. Herr Schneider fotografierte, Frau Volkers löcherte Samten mit Fragen zur Geschichte. Günter jammerte, dass er schlecht geschlafen habe; da aber niemand auf ihn einging, wandte er sich wieder Samtens Vortrag zu.

      »Ladakh war über tausend Jahre lang ein unabhängiges Königreich. Der legendäre König Sengge Namgyal ernannte Leh erst vor vierhundert Jahren zur Hauptstadt von Ladakh und ließ diesen Palast erbauen. Hier regierten die Könige bis zum Jahr 1834, als Soldaten aus der indischen Region Jammu einmarschierten und den König verjagten. Somit ist Ladakh erst seit gut hundertachtzig Jahren ein Teil von Indien.«

      Außerdem erzählte Samten, wie Ladakh viele Jahrhunderte lang Knotenpunkt einer Karawanenroute war, auf der Händler von der schwülheißen südlichen Tiefebene über zerklüftete Gebirgszüge bis nach Ostasien nach Yarkand und Khotan zogen, in den Satteltaschen ihrer Kamele Teppiche, Seide, Gewürze und Wolle. Daher sei die Stadt immer schon ein lebhaftes buntes Zentrum für Kaufleute aus fernen Ländern gewesen, bis vor zwei Generationen die Zeit der Karawanen zu Ende ging.

      Während die Unterhaltung weiter mäandrierte, kehrten Sonjas Gedanken zurück zu ihrer ersten Reise nach Ladakh. Mit dem Bus war sie aus Srinagar gekommen, der Standardroute für Rucksacktouristen mit viel Zeit. Damals war Leh ein größeres Dorf, die wenigen Touristen freuten sich über ein paar Annehmlichkeiten, die man hier fand: Vollkornbrot, Müsli und frisch gemahlenen Kaffee in der German Bakery, zerlesene Second-handbücher, eine heiße Dusche.

      Heute standen vor der State Bank of India Menschen in der Schlange, um mit ihrer Mastercard Rupien abzuheben. Die Lehmhäuser hatten dreistöckigen Betonbauten Platz gemacht. An der Geschäftsstraße beim Neuen Tempel saßen die Bäuerinnen noch immer auf dem Gehsteig, vor sich Kartoffeln, Karotten, Kohlrabi, kleine feste Äpfel, alles dekorativ aufgeschichtet. Früher hatte Sonja dieses Bild romantisch gefunden, heute wirkten die Frauen in dem Getümmel und auf Höhe rußender Autoauspuffe verloren. Trotzdem gingen die Geschäfte gut – heimisches Obst und Gemüse schätzten viele Kunden mehr als die Importfrüchte.

      Heidrun wollte unbedingt Korallen kaufen. Nicht die billigen hellen von den Straßenständen, sondern echte dunkelrote Korallen. Außerdem brauchte sie einen großen Bergkristall. »Ein Geschenk für meinen Mann«, erklärte Heidrun. »Der Ärmste sitzt ja ständig an seinem Computer. Wusstest du, dass Bergkristalle Elektrosmog reinigen?

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