Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch
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Die Straße durch unser Dorf lag im Moment grau und öde da. Weil sie die einzige Verbindung vom indischen Flachland in die Hauptstadt Leh war, musste jedes Fahrzeug, das von dort heraufkam, unser Dorf passieren: die schweren Fahrzeuge der Militärs, die in endlosen Konvois bis an die Grenzposten nach Pakistan und China weiterfuhren, ebenso wie die dunkelblauen Lastwagen mit hölzernen Fahrerkabinen, hoch beladen mit Kerosin, Reis und Mehl. Sehr selten bekamen wir auch einen bunt lackierten Truck zu sehen. Diese Straße also verband das Dorf in den Sommermonaten, solange die Pässe schneefrei waren, mit den fernen Städten, eine für uns unerreichbare Welt. Kaum jemand aus dem Dorf war bis jenseits dieser Pässe gekommen – was gab es in Indien schon zu erledigen?
»Hey, Norbu, mach Platz da, wir wollen essen!« Übermütig spritzte Rigzin mir ein paar Handvoll Bachwasser ins Gesicht. Murrend und in Zeitlupe rutschte ich von meinem Stein herunter und bemerkte im selben Moment, wie hungrig ich war.
Rigzin und Tundup hatten sich inzwischen über meinen Weidenkorb hergemacht auf der Suche nach Essbarem, stöberten zwischen dürrem Gestrüpp und drei Fladen getrocknetem Kuhdung, meiner bisherigen Ausbeute des heutigen Tages. Noch hatten sie die Köstlichkeit, die ich mitgebracht hatte, nicht entdeckt. Ich ließ sie zappeln.
»Hier, das dürfte genügen«, grinste ich, schob meine beiden Freunde beiseite und zog einen verschnürten Beutel heraus: Tsampa, frisch gemahlenes, geröstetes Gerstenmehl. Mit Wasser oder Tee vermischt, war Tsampa die perfekte Verpflegung für unterwegs, eine nahrhafte Paste von würzig-nussigem Geschmack, die zu Kugeln geformt einfach in die Tasche gesteckt wurde. Allerdings gab es auch besseres Essen als Tsampa, besonders wenn man wie wir seit dem Morgen draußen war. Ich genoss einen Moment Rigzins langes Gesicht, griff dann in meine Tasche und zog drei große dunkelrote reife Tomaten hervor, frisch aus unserem Garten.
»Das sieht passabel aus«, stellte Tundup in seiner spröden Art fest, doch seine glänzenden Augen verrieten, wie sehr er sich über die Köstlichkeit freute.
Rigzin nahm die Tomaten sofort an sich und tanzte ausgelassen auf dem Geröll herum.
»Wie sieht es bei dir aus?«, fragte ich nun Rigzin.
Vorsichtig legte er die Tomaten auf den Stein und platzierte daneben einen kleinen braunen Brocken Tee.
»Prima.« Ich nickte anerkennend. »Haben wir zufällig auch Milch?«
Rigzin schüttelte den Kopf.
»Was soll’s. Fangen wir mal an«, schlug ich vor.
Tundup steuerte nur selten etwas zu unserem Mittagessen bei. Bei ihm zu Hause reichte es gerade für das Nötigste, und es war selbstverständlich, dass wir das Essen mit unserem Freund teilten. Aber dieses Mal überraschte er uns mit einem verknüllten Leinenbeutel, den er aus seinem Mantel zog. Zucker! Weiße süße Kristalle, durch lange Transporte angestaubt, mit Lastwagen in Säcken über die Pässe des Himalaya befördert.
»Woher ist der? Hast du einen Lastwagen geplündert?« Ich traute Tundup so etwas sofort zu.
Aber er grinste bloß. Tundup war unser Chef, somit erübrigten sich weitere Nachfragen. »Von Onkel Angchuk, weil ich meine Arbeit gut mache«, erklärte Tundup schließlich bereitwillig. »Was habt ihr denn gedacht … den brauchen wir später zum Tee.«
Eine Thukpa wollten wir kochen, Nudelsuppe mit Brennnesseln. Zarte junge Brennnesseln wucherten zu der Zeit üppig auf der Wiese, und es dauerte nicht lange, bis wir genug davon gezupft hatten.
»Steck bloß keine Ziegenköttel mit ein!«, neckte ich Tundup, und er verzog sein Gesicht zu diesem trockenen Grinsen, dieser speziellen Tundup-Mimik, die ich nie ganz durchschaute, und obwohl er mein bester Freund war, verstand ich oft nicht, welche Gedanken und Gefühle sich hinter dieser Fassade verbargen.
»Wenn schon, die Ziegen haben auch bloß Gras und Brennnesseln gefressen«, erwiderte er.
Als wir mit unseren vollen Taschen zurückkamen, hatte Rigzin ein Feuerchen entfacht, über dem das Wasser im Topf kochte. Wir kneteten den Teig, zupften ihn auseinander und gaben ihn mit den Brennnesseln, Tomatenstücken, etwas Salz und Chilis in den Topf. Die Suppe schmeckte herrlich und nach dem Essen dösten wir träge in der Sonne, bis Rigzin einen lauten Schrei ausstieß: »Leute, Steinadler! Genau über uns.«
Ich riss die Augen auf. Tatsächlich. In dem makellos blauen Himmel zogen zwei schwarze Punkte weite gleichmäßige Kreise, und zwar in jener eigentümlichen Ruhe, wie nur starke, selbstbewusste Lebewesen dies taten.
»Was machen die denn hier?«, rief Tundup. »Sie sollten viel weiter oben in den Bergen sein.« Mit einem Ruck war er auf den Beinen und wies uns an: »Beobachtet sie und pfeift, wenn sie an Höhe verlieren. Habt ihr verstanden?«
Nervös beobachteten wir die Adler, als ich bemerkte, wie eine Ziege ins Geröll hinaufkletterte. Sie wäre die perfekte Beute! Im Jahr zuvor hatte ein Steinadler eines meiner Schäfchen vom Hang weggeholt.
Ich begann zu schwitzen und rannte den Hügel hinauf. In meinem Kopf hämmerte es. Wie Vater schimpfen und mich wieder einmal einen Nichtsnutz nennen würde, wenn wir auch dieses Jungtier an einen Adler verlieren würden. Meine bloßen Füße berührten hartes Gestrüpp, bis ich aus der Ferne Pfiffe und Rufe hörte.
»Hey, Norbu, komm zurück, alles in Ordnung.«
Ich blieb stehen und schaute nach oben. Nicht ein schwarzer Fleck war in diesem unglaublichen Blau zu sehen.
»Sie sind doch längst abgedreht.« Tundup lachte, als ich bei meinen Freunden ankam. »Wirst du schnell nervös, Junge!«
Während ich mich langsam beruhigte, hatte Tundup bereits das Thema gewechselt.
»Wisst ihr eigentlich, warum ein Adler wegfliegt, wenn du laut pfeifst?« Er kaute an einem frischen Weidenblatt. Da Rigzin und ich ratlos mit den Schultern zuckten, gab er selbst die Antwort: »Weil der Pfiff sein Hinterteil kitzelt. Deshalb zwickt er es zusammen und schießt dadurch automatisch vor. Wie ein Pfeil.«
Oft bezweifelte ich, dass Tundup seine Worte ernst meinte. Dann schob ich meine Zweifel schnell beiseite. Letztlich wollte ich ihm einfach glauben. Und ihn bewundern. Tundup war klug und mutig. Und er hatte ein feines Gespür für die Gesetze und Launen der Natur. Mein Onkel Angchuk setzte großes Vertrauen in Tundup und erzählte oft, wie sicher seine Tierherde bei ihm aufgehoben sei. Tundup konnte sogar einem Muttertier beim Gebären helfen, griff ohne Scheu in ihr Inneres, um den Nachwuchs in die Welt zu holen. Anschließend rieb er das Neugeborene mit Gras trocken, wickelte es in ein Tuch und trug es behutsam, das blökende Muttertier an der Seite, nach Hause in den Stall.
Die Erde war noch aufgeheizt von der Sonne, als wir ausschwärmten, um die kostbare Hinterlassenschaft unserer Tiere einzusammeln und zum Trocknen auszulegen. Jeder von uns hatte seinen eigenen Stein, auf den wir unsere Fladen mit der Hand plattdrückten. Die getrockneten Stücke vom Vortag packten wir in unsere Weidenkörbe, wobei wir gut aufpassten, dass keiner einen Fladen vom anderen stibitzte, Freundschaft hin oder her.
Längst hatten die Schatten sich über den Fluss im Tal gesenkt, als wir uns auf den Heimweg machten. Die Zicklein und Kälber sprangen ungeduldig und in Vorfreude auf die schweren Euter ihrer Mütter umher.
Mutter