Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch
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Читать онлайн книгу Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch страница 6
Als das Kälbchen lange genug getrunken hatte, zog ich es behutsam weg. »Mach eine Pause«, murmelte ich und rieb seine hellbraune Blesse, »und teile bitte deine Milch mit uns.« Ich wiederholte diese Worte, die meine Api schon immer in die weichen Ohren unserer Kälbchen und Zicklein geraunt hatte. »Ein Tier ist ein Lebewesen wie du und ich. Wenn du also seine Hilfe benötigst, mach es dir zum Freund. Nur mit Respekt wirst du ihre Unterstützung bekommen«, hatte Api uns Kinder immer ermahnt.
Das störrische Kälbchen wollte sich nicht losreißen, und es kostete mich einige Mühe, es von seiner Mutter zu trennen.
Yangchen knuffte mich freundlich in die Seite und schickte mich mit einer Handbewegung aus dem Stall. Währenddessen ergriff Mutter mit sicherer Hand das Euter und ließ die glänzende fette Milch in den bereitgestellten Lederbeutel fließen. Als der Lederbeutel halb gefüllt war, richtete sie sich auf und schob eine Haarsträhne unter ihr Kopftuch. Sie lächelte.
»Nunu Norbu, du darfst nun gehen. In der Küche stehen Buttermilch und frisches Brot.«
Dankbar leerte ich meinen Korb, stapelte die gesammelten Dungfladen auf den sorgsam aufgebauten Haufen und betrat den Hausflur. Dort standen ein paar Säcke mit Stroh, zwei alte Benzinkanister zum Wasserholen, auf dem gestampften Lehmboden lagen Schnüre, Seile und anderer Kleinkram. Unsere gefleckte graue Katze, die auf einem der Strohsäcke gedöst hatte, schrak auf und rannte in den Stall; sie wusste, dass sie von Mutter eine Schüssel Milch bekommen würde. Schließlich fiel mein Blick auf zwei weitere Säcke. Sie waren prall gefüllt mit Äpfeln aus unserem Garten. Das konnte nur bedeuten, meine Api würde auf den Markt nach Leh gehen. Die Äpfel aus unserem Dorf waren in der Hauptstadt begehrt, und immer wenn Api von dort zurückkam, brachte sie Geldscheine und ein Geschenk für mich mit.
Ich stieg die steile Treppe in den ersten Stock hinauf. Angenehm dunkel und kühl war das Haus, denn es gab nur kleine Fenster, damit im Winter die Kälte und im Sommer die Hitze abgehalten wurden. Mit einem Fußtritt schob ich die schwere knarzende Holztür zur Küche auf.
Die Küche war der größte und wichtigste Raum des Hauses. Hier kam die Familie zusammen, Gäste wurden empfangen und meine Geschwister machten ihre Schulaufgaben. Außerdem schliefen wir in der Küche, außer im Sommer, wenn wir auf dem Hausdach unser Lager aufschlugen. Der Mittelpunkt des Raums war ein riesiger Ofen aus gebranntem Lehm. Er hatte drei Löcher auf der Deckplatte, über denen gekocht wurde. Durch ein seitliches Loch wurde das Brennmaterial hineingeschoben. Neben dem Herd entlang der Wand war auf Holzregalen das Geschirr aufgestellt: große Kannen für Tee und Chang aus Messing, kunstvoll gehämmert und verziert, Becher und Löffel, ebenfalls aus Messing. Auf der Erde standen drei Tonkrüge zum Aufbewahren von Buttermilch. Bald würde Yangchen einen Teil dieses Hausrats für ihre Aussteuer bekommen.
Entlang der linken Wand lagen schmale Teppiche, davor reihten sich ein paar niedrige Tische mit kleinen Schalen voller Tsampa darauf. Der dicke Holzpfosten in der Raummitte zum Abstützen des Dachs erfüllte noch weitere Zwecke. Auf mittlerer Pfostenhöhe war ein kleines Brett angenagelt, auf dem ein Kamm aus Yakhorn, eine Zahnbürste sowie ein trüber Handspiegel lagen – die komplette Badausstattung.
Ich nahm eine Holzschale vom Regal und füllte Buttermilch ein. Sie schmeckte frisch und säuerlich, Mutter hatte sie am Morgen zubereitet. Gerade ließ ich mich vor einem Tischchen nieder und zupfte ein Stück vom Brotfladen ab, um es in die Buttermilch zu tunken, als Api hereinkam. Sobald sie mich sah, breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. »Nunu, mein Junge, iss ordentlich, du musst Hunger haben.«
»Api, wirst du nach Leh gehen? Warum hast du mir nichts gesagt?«, erwiderte ich vorwurfsvoll.
Mit einem langen Seufzer ließ Api sich neben mir nieder und legte ihre faltige knochige Hand auf meinen Kopf. »Du hast recht, Nunu. Ich gehe morgen nach Leh.« Sie nahm ihre Wollmütze ab, die sie rund ums Jahr trug, und kratzte sich ausgiebig den Kopf.
»Du hast versprochen, mich einmal mit in die Stadt zu nehmen«, beschwerte ich mich. Api und ich waren doch Verbündete, wie konnte sie ein Versprechen nicht einhalten?
»Dein Vater sagt, er braucht dich für die Tiere. Deshalb kannst du nicht mit.«
Ich ließ den Kopf hängen. Ich würde Api vermissen. Api war für mich der wichtigste Mensch auf der Welt. Niemanden habe ich so innig geliebt wie sie und sicher liebte kein anderer Mensch mich so bedingungslos wie Api. Vielleicht lag unsere spezielle Beziehung darin, dass wir beide aus demselben Holz geschnitzt waren. Api konnte stur sein wie ein Esel, sie war derber als ein Mann und konnte mindestens ebenso viel Chang trinken. Und sie hatte ein Herz aus Gold. Was uns am meisten verband, war wohl unsere Furchtlosigkeit. Api hatte vor nichts und niemandem Angst und auch ich war für mein Alter ziemlich mutig. Es gefiel ihr, dass ich so frech war. Deshalb stand ich unter Apis Schutz, wenn Vater wieder einmal allzu streng mit mir umsprang.
»Nunu, komm jetzt, kratz mir mal den Rücken. Da juckt es gewaltig«, befahl sie mir unwirsch, sie mochte keine Sentimentalität. Also fuhr ich mit meiner kleinen Hand in den Halsausschnitt ihrer Goncha und kratzte konzentriert über ihren Rücken. Voller Behagen seufzte Api, bis sie genug hatte und mir mit rauer Stimme Einhalt gebot: »Schluss jetzt, du ziehst mir noch das Fell ab, Junge.«
Nach und nach kamen die anderen Mitglieder unserer Familie herein, meine Geschwister, Vater und schließlich Mutter. Yangchen hatte inzwischen den Ofen angefeuert, aus dem jetzt dicker Qualm quoll. Dann übernahm Mutter den Sitzplatz vor dem Ofen. Es dauerte nicht lange, bis sie sich ihre Augen rieb, wegen des beißenden Rauchs. Yangchen legte durch das Seitenloch ein paar Dungfladen nach, und der Qualm wurde noch schlimmer. Ich hatte mich neben Api zusammengerollt und lauschte träge den Gesprächen.
»Das Metallteil ist vom Rechen abgebrochen«, erzählte Vater, während er ein Stück Holz zurechtschnitzte. Hin und wieder ließ er seine Arbeit ruhen und trank einen Schluck Tee, dabei prüfte er sein Werk. »Was ist mit der Kuh? Sie ist längst überfällig mit dem Kalben«, fragte er Mutter, die am Herd in einem Topf herumrührte. Es würde wieder Nudelsuppe geben mit Gemüse aus unserem Garten, wo Kartoffeln, Karotten, Erbsen, Zwiebeln, Spinat und Rettich wuchsen.
»Sie wird immer apathischer, ich weiß auch nicht, hoffentlich ist alles in Ordnung«, erwiderte Mutter.
»Das wird ein Bulle, wenn er so lange überfällig ist«, warf Api ein und zwinkerte mir zu. »Vielleicht kriegst du bald deinen Bullen, Nunu.« Ich wünschte mir schon lange einen kleinen Bullen.
Api hockte im Schneidersitz auf ihrem Stammplatz am vordersten Sitz neben dem Ofen, schließlich stand ihr als der Ranghöchsten der Anwesenden dieser Platz zu, und drehte ihre Gebetsmühle. »So, Yangchen, jetzt hol mir meinen Chang«, beorderte sie meine Schwester, die neben Mutter am Herd hockte und die Karotten säuberte.
»Dann leg deine Gebetsmühle beiseite!«, fuhr Vater dazwischen. »Gebete an den Buddha und Chang passen nicht zusammen. Jedenfalls nicht gleichzeitig.«
Manchmal stritt mein Vater mit Api, weil für sie alles Mögliche zusammenpasste, was andere für unpassend hielten. Aber heute wollte sie offenbar keinen Streit anzetteln. Api wusste, ihr Sohn mochte es nicht, wenn sie allein in die Hauptstadt ging. Mit einem Knall platzierte Api ihre Gebetsmühle auf das Tischchen, als Yangchen ihre Tasse füllte. Sie tauchte die Spitze ihres rechten Ringfingers in die milchigweiße Flüssigkeit und schnippte dreimal in die Luft: nach oben, nach vorn und zur Erde hin. Es war ihre Gabe an die Götter des Himmels und der Erde, die offenbar auch Chang mochten. Dann trank sie das Glas in einem Zug leer.