Sinfonie des sonnigen Tages. Anja Hilling
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„Diesen Kuss der ganzen Welt!“
Friedrich Schiller: Ode an die Freude
VERLAUF
Das Stück folgt den vier Sätzen einer Sinfonie, die klassischerweise das Leben in einem einzigen Tag durch die Nacht ins Licht führt. Obwohl oder weil es nie Zweifel gab, dass diese Geschichte, wie jede andere, im taumelnden Jubel endet, wird das Motiv des Lichts in der Durchführung des Tages als permanent auftauchender Widerstand empfunden, und der Mensch wird sich gegen das Ende verteidigen, gleich einer Wimper, die sich eher an die Wurzeln im Gesicht klammert als sich dem Sturm anzuvertrauen.
ORT
Die Handlung ist ans Meer verlegt, jene Fläche zwischen zwei Kontinenten, auf der zwei Welten sich treffen. Auf dieser Seite der Welt kämpft ein Paar im Urlaub sich durch den Rest ihrer Liebe. Von der anderen Seite kommend, versucht eine Frau den Rest ihrer Organe übers Meer zu bringen. Die Motive bewegen sich aufeinander zu.
TEMPO
Zwei gegenläufige Themen bestimmen den Rhythmus: die Flucht und der Stillstand. Die Sätze gehen das sich selbst überschwemmende Tempo des Lebens, das aus dem Nichts entsteht, sich aufschwingt im ersten Satz, schneller entgleitet im zweiten, fast zur Ruhe kommt unter den Mächten der Natur im dritten, und dann, viertens, in die Auflösung rast.
BESETZUNG
Drei Figuren nähern sich jener Grenze, an der ihre Identität in die weiße Gischt des Tages schwappt. Ihr Trip wird begleitet von zwei Fagotten, einem Kontrafagott, einer Pikkoloflöte, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, vier Hörnern, zwei Trompeten, drei Posaunen, Pauken, Trommeln, Becken, Triangeln, Streichern, einem Computer und einem Chor. Menschen und Worte werden durch Musik ersetzt, früher oder später.
Die Aufführung dauert so lang wie sie braucht, es gibt keine Pause. Wer danach noch bleiben möchte, der soll es tun.
Erster Satz
AUS DER VERDUNKELUNG
(Allegro ma non troppo, un poco maestoso)
schnell, aber nicht wirklich, im Ganzen ein wenig majestätisch
2:20 AM – 9:30 AM
Drei Menschen.
Zwei auf dieser Seite. Einer dort.
Dazwischen das Meer
Mischt sich mit dunklem Rauschen
In ihre Gedankenmelodie.
Nutzt unsichtbar seine mächtige Stimme
Um beide Seiten zu sich zu ziehen.
Präludium
Eine Frau auf einer rotschwarzen Yamaha. Ihr Körper wurde mit Algen an den Körper der Maschine gebunden, ihr Haar mit Müll und Muscheln geschmückt. Ihr rechtes Auge ist verschlossen und das linke durch einen Hyazinth ersetzt. Ihr Alter ist nicht zu schätzen. Über der linken Gesichtshälfte versteinert ein Ausschlag, an der rechten Hand geht eine Tätowierung über ins Marmor der Haut. Die Versteinerung nimmt ihren Lauf.
Lou
Es freut mich freut mich sehr.
Ich denk wir könnten zusammenkommen, ich hab zwei Jahre studiert. Auf Lehramt. Abgebrochen, aufgrund politischer Entwicklungen. Umgeschult. Sechs Jahre Berufserfahrung. Gesammelt im wahrsten Sinn, in unmittelbarer Nähe zum Verbraucher. Haptisch. Olfaktorisch. Ohne Neid. Staatlich geprüfte Müllsammlerin. Ausgezeichnet mit dem goldenen Sack. Nie zu voll, offen für alles. Plastik, Plastik, Plastik, Flaschen, Kanister, Folien. Offen für die Vergessenen, Äpfel, Minen, Kinder, Gefühle. Ich bleib wenn andere Feierabend machen. Für den Abfall von Bäumen, Panzern, Patronen, Beinen, Gesichtern. Wenn geschossen wird, verschließ ich meine Gänge mit Schaumstoff und mach weiter, ich bin wie ihr. Ich liebe nicht, schlafe nicht, stehle nicht. Ich will nur arbeiten. Wenn ich eine Münze finde, werd ich sie erst mit meiner eigenen Zunge reinigen, bevor