Talmi. Oskar Jan Tauschinski
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Der Mantel, in dem ich fröstelnd sitze, ist voll Ruß und riecht nach Rauch. Kein Wunder. Es schneite ja dicke, glühende Flocken wie bei einem feurigen Schneegestöber. Ich stand in der verlängerten Kärntnerstraße, dicht hinter einer Kette von Polizisten; neben mir wortlose Menschen mit rot überflackerten Gesichtern und Pupillen, in deren Dunkel sich die lodernde Feuersäule des Heinrichshofes beweglich spiegelte. Woran mochten sie alle denken, meine lieben Kompatrioten, die damals so begeistert »Heil!« gerufen hatten, als diese Krankheit begann, deren letzten Phasen sie nun beiwohnen? – Ach, Ernstl, auch du hast »Heil!« gerufen, du Narr!
Vom Karlsplatz her wehte uns eisiger Nebelwind in den Rücken, aber die Gesichter glühten von der Brandhitze. Es war wie ein gigantisches Kaminfeuer in einem kalten, finsteren Saal.
Alles erinnert an dich, Ernst!! Unsere Oper brennt; wo die Tische deines »Café Heinrichshof« standen, fallen jetzt glühende Balken auf das Pflaster. Überall bist du, und dabei bist du längst nirgendmehr – drei Jahre nach deinem tödlichen Unfall.
Oder irre ich? War es doch kein Unfall?
Ich weiß es nicht; aber vielleicht werde ich es wissen, wenn alles genau aufgeschrieben vor mir stehen wird. Wie war das doch damals, bei jener Traviata-Aufführung im März 1925? – Ach, wie kalt es ist! Ich muß mir die Füße in eine Decke wickeln …
Wieder einmal stand ich im Stehparterre ziemlich weit vorne, aber doch leider nicht an der Brüstung, und wartete auf den Beginn der Vorstellung. Wie freute ich mich auf die Ouvertüre, die gleich ertönen sollte, mit ihrem tränenfeuchten Geigengesang, der später von einer festlich getragenen Tanzweise abgelöst wird und der, vor dem vierten Akt nochmals angestimmt, in das hoffnungslose Schluchzen einer Todgezeichneten ausklingt. Damals liebte ich dies Werk um seiner selbst willen. Heute kann ich es nicht hören, ohne daß sehr persönliche, mein eigenes Leben und Erleben betreffende Erinnerungen in mir wach werden.
Neben mir stand eine schöne blonde Person von ebenmäßigem Wuchs und selbstgefällig törichtem Gesicht, das trotz der frühen Jahreszeit tief gebräunt war. Allem Anschein nach kam sie gerade von einem Skiurlaub im Gebirge. Sie schien mit ihrem Äußeren durchaus zufrieden. Das neue geblumte Kleid und die Frisur taten ihre Schuldigkeit. Auch hätte sie keinen günstigeren Standort für ihre Schönheit wählen können als neben mir, obwohl sie sicherlich nur von dem Wunsch, gut zu sehen und zu hören, beseelt, so rasch nach vorne geeilt war. Auf mich wurde sie ohne Zweifel erst aufmerksam, nachdem sie die noch fast leeren Logenreihen und das Parkett einer genauen Musterung unterzogen hatte.
Der Lokalaugenschein war zu ihrer vollsten Zufriedenheit ausgefallen. In einer der Parterrelogen, der zweiten oder dritten von uns aus, hatte ein junger Mann Platz genommen, der seinerseits das Opernglas über die Köpfe der dicht gedrängten Stehplätzler streifen ließ, wobei er sichtlich beim Anblick meiner hübschen Nachbarin verweilte. Er mußte noch sehr jung sein, vielleicht ein Student im ersten oder zweiten Hochschuljahr. Die Art, wie er sein Glas handhabte, wie er den Kopf langsam hin und her wandte, während die Linke lässig über den Logenrand hing, hatte etwas vollendet Graziöses – fast zu Graziöses für einen jungen Burschen, der noch dazu recht breitschultrig und muskulös aussah und einen kurzen, sehnigen Hals hatte. Besonders im Profil kam die Kräftigkeit dieses Halses zur Geltung, der vom Kleinhirn abwärts in gerader, harter Linie in den Kragen hinablief. – Dies wird einmal ein Stiernacken werden, mußte ich unwillkürlich denken. Vorläufig war es noch ein entzückender Stierkalbnacken.
Nun hob der junge Logeninsasse in scheinbarer Kurzsichtigkeit das Programm nahe vors Gesicht. Er hielt das Heft in den großen, sehr weißen und langfingrigen Händen mit einer Behutsamkeit, die eines kostbaren Pergamentes wohl würdig gewesen wäre, und tat, als sei er in die Lektüre vertieft. Aber seine Augen glitten immer wieder zerstreut vom Papier fort und zu uns herüber; und dies war verständlich.
Meine Nachbarin war zusehends schlanker und größer geworden. In ihre sonnengebräunten Wangen stieg bezaubernde Röte und ließ mich an eine reife, sommerwarme Marille denken. Auch sie schien ihr Textbuch auswendig lernen zu wollen; dazwischen fand sie Zeit, hie und da ihre Locken ordnend aus der Stirn zu streifen oder an ihrem Kleid herumzunesteln. Nur ganz selten und mit völlig beherrschter Teilnahmslosigkeit sah sie sich im Zuschauerraum um, und wenn ihr Blick dann gelegentlich die dritte Loge links streifte, so verweilte er dort kaum einen Augenaufschlag länger als bei den übrigen.
Es mußte knapp vor Beginn der Vorstellung sein. Der Saal, der lange leer geblieben war, hatte sich plötzlich sehr rasch gefüllt. Immer mehr Abendkleider und Smokings wurden in den vorderen Sitzreihen sichtbar, immer mehr Boutons, Broschen und Brillantanhänger leuchteten aus dem Dunkelrot der Logen. Das Stimmengewirr der präludierenden Instrumente war jetzt von dem der schwatzenden Zuschauer fast ganz überdeckt. Im Stehparterre stand man Kopf an Kopf. Da hörte ich plötzlich unweit hinter mir eine sehr höfliche, gleichsam höfisch gezierte Baritonstimme vielerlei Entschuldigungsfloskeln fast pausenlos hintereinander hersagen. Das unwillige Murmeln der Stehenden, die beiseite traten, wirkte nur wie eine Geräuschkulisse, von der sich die klar skandierten Silben des »Verzeihen Sie bitte«, »Nur einen Augenblick …«, »Entschuldigen Sie«, »Ich nehme Ihnen Ihren Platz durchaus nicht weg«, »Ich möchte nur …«, »O pardon …« deutlich abzeichneten.
Als wir uns umdrehten – die »Marille« und ich –, stand der Besitzer des höfischen Baritons schon vor uns. Er machte eine vollendete Verneigung – ganz so, wie man sie den jungen Leuten damals in der Tanzstunde beibrachte –, indem er zuerst nur den sehr hellen Kopf im Stierkalbnakken, dann aber ganz leicht auch die Schultern beugte, und sagte mit der gezierten Anmut eines schüchternen Liebhabers auf dem Theater:
»Wollen Sie mich, bitte, nicht für zudringlich halten, aber ich habe zwei Logensitze … Der Platz neben mir bleibt leer. Ich sehe Sie hier im Gedränge stehen … Darf ich Ihnen die zweite Karte geben?«
Zu wem sprach er? – Doch wohl zu der sonnengoldenen Sportlerin. Aber er sah mich dabei an, streckte die große Hand aus und reichte die Eintrittskarte – wem reichte er sie? – mir.
Ich war bis zu diesem Augenblick ausschließlich Zuschauerin bei dem uneingestandenen Flirt gewesen, und nun fand ich gar keine Zeit, um selbst in die Rolle zu schlüpfen, die ich der Marille zugeschrieben hatte. Ich nahm also die Einladung mit der gleichen Selbstverständlichkeit an, mit der ich mir in der Straßenbahn Platz machen ließ. Zu sitzen, wenn andere standen, war das Recht der Körperbehinderten – eines der wenigen Rechte, gemessen an den vielen Pflichten, die mir mein krummer Rücken auferlegte. Unbefangen machte ich von diesem Recht Gebrauch. Ehe ich Zeit fand nachzudenken, ob ich das Richtige tat, hatte ich schon mechanisch »Oh, besten Dank, sehr liebenswürdig!« gesagt und schickte mich an, ihm zu folgen. Da fing ich noch einen eigenartigen, etwas verlegenen und doch auch wieder triumphierenden Blick auf, den der muskulöse Jüngling mit den Allüren eines altmodischen Schwerenöters zu meiner schönen Nachbarin gleiten ließ. Was dieser Blick bedeuten sollte, konnte ich in der Eile nicht bestimmen. Es fiel mir nur auf, daß bei der raschen Bewegung seiner Augen das linke um den Bruchteil einer Sekunde hinter dem rechten zurückblieb. Bei ungenauem Hinschauen hätte man diese merkwürdige Trägheit des linken Auges für ein Schielen halten können, das jedoch sofort verschwand, als der Blick des jungen Mannes wieder auf mir ruhte. Übrigens war im Moment keine Zeit, darüber nachzudenken, denn wir hatten alle Mühe, uns durch die Menge zurück und zum Ausgang zu drängen. Dann ging es eilig treppab, treppauf und durch mehrere Korridore. Als wir die Loge betraten, war das Licht im Saal gerade erloschen, und ehe wir im Dunkeln unsere Plätze gefunden hatten, setzte das leise Schluchzen der Primgeigen ein.
Ich