Talmi. Oskar Jan Tauschinski

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Talmi - Oskar Jan Tauschinski

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Ich stand wartend neben dem Spiegel. Jemand gebärdete sich so unbekümmert beim Ankleiden, daß ich einen heftigen Stoß in den Rücken abbekam. Unwillig sah ich mich um. Es war die Marille, die jedoch keine Anstalten traf, sich zu entschuldigen. Der Blick, der dem meinen begegnete, war zu zornig, um so verächtlich auszufallen, wie er gemeint war. Das nützt dir alles nichts, schienen die Augen der jungen Frau zu sagen, du hast ja doch einen Bukkel! – Dumme Gans, mußte ich meinerseits denken. Selten hat mir mein Buckel so gute Dienste geleistet. Wie müde wäre ich jetzt, hätte ich wie sonst drei Stunden lang auf den Zehenspitzen stehen müssen, um über so gerade Schultern wie die deinen hinwegzusehen!

      Aber da kam man schon mit meinem Mantel. Die Marille wandte sich brüsk ab und ging, während die Augen meines jungen Schutzherrn ihr nun mit deutlichem Triumph folgten, wobei auch jetzt das linke sich um den Bruchteil einer Sekunde hinter dem rechten verspätete.

      WER BIST DU?

       (Susannens Aufzeichnungen vom 13. März 1945)

      Ich bin gestern nicht weit mit meiner Schreiberei gekommen. Immer wieder versinkt man in Gedanken und ertappt sich dann nach einer Viertelstunde dabei, daß man tatenlos vor seinem Schreibblock sitzt. Schließlich war ich so müde, daß ich alles liegen ließ und schlafen ging. – Und doch habe ich kaum die Hälfte meiner ersten Begegnung mit Ernstl zu Papier gebracht! Also weiter, weiter, keine Zeit verlieren!

      Auf der Gasse war es empfindlich kalt – nicht anders als jetzt, da ich dies alles niederschreibe. Aber der Ring war von Bogenlampen erleuchtet und nicht von Bränden. Die Fenster der Kaffeehäuser und Geschäfte strahlten. In vielen Wohnungen brannte Licht … Heute kann ich es kaum glauben, daß dies einst selbstverständlich war.

      Übrigens muß ich morgen mit Margot in den Keller hinunter, um nachzusehen, ob wir dort nicht Notbetten aufschlagen können; vielleicht die Polsterbank aus dem Vorzimmer, die ist nicht so schwer zu tragen, und das alte Feldbett, aber das muß ich noch ausbessern. Es wird Zeit, an den Keller als Lebensraum zu denken. Da wird die Petroleumlampe erst ihre Triumphe feiern! – In solchen »irdischen« Belangen ist Margot nicht mit Gold aufzuwiegen. Es war doch gut, daß ich sie zu mir genommen habe, als sie sich mit der alten Blaschka überwarf, obwohl ich es weiß Gott nicht leichten Herzens tat. Dieses Geplapper mit norddeutschem Akzent den ganzen Tag zu ertragen – zuerst im Geschäft und dann abends wieder – ist ein bißchen viel. Aber schließlich ist sie ein armer Teufel, und außerdem … hat sie dich, Ernstl, gekannt. Grund genug, sich ihrer anzunehmen. Vielleicht ist es überhaupt gut, daß ich jetzt nicht allein bin. Es wäre trostlos, hätte man in der heutigen Zeit nur an sich selbst zu denken.

      Am schlimmsten wird es mit Lebensmitteln sein. Wir haben gar keine Reserven. Ich wüßte auch keinen Menschen, der uns einen Schleichhändler empfehlen könnte. – Außer Berti. Berti kennt sicher solche Leute. Aber der findet ja, die Zukunft solle für sich selber sorgen, es gebe genug Menschen, die jetzt schon hungern, und es sei nicht der Augenblick, an Kommendes zu denken, wenn man gleich helfen muß.

      Übrigens hat sich Berti lange nicht blicken lassen. Seit der Aktion für die ungarischen Juden habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ob damals wohl alles glatt abgelaufen ist? Wenn er nur aus Klugheit nicht kommt, so soll es mir recht sein. Ich habe jetzt immer das Gefühl, beobachtet zu werden, und was ihn betrifft, so ist gar nicht daran zu zweifeln, daß man ihn bespitzelt. Hoffentlich liegt kein ernsterer Grund für sein Fernbleiben vor. Diese Pfadfindernaturen, die meinen, jeden Tag etwas Edles tun zu müssen, geben immer neuen Stoff zur Beunruhigung. Manchmal glaubt man schon zu wissen, was in ihnen vorgeht, und dann steht man wieder vor einem Rätsel. Was riskiert Berti nicht täglich für die anderen! Und dabei liebt er die Menschen durchaus nicht. Im Gegenteil, er verachtet sie. Eigentlich hat er ja auch dich verachtet, Ernstl. Und doch kann ich ihm deswegen nicht zürnen, denn erstens hatte er recht, und zweitens hat ihn die Kenntnis deiner Schwächen nicht gehindert, dein Freund zu sein. – Oder nennt man so etwas nicht Freundschaft?

      Ich bin vom Thema abgekommen und doch wieder nicht, denn alle Umwege führen zu dir. Margot und Berti – sie gehören ja auch mittelbar zu deinem Vermächtnis wie meine eigenen Erinnerungen an dich.

      Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, also wir gingen den Ring entlang bis zur Bellaria. Dort gedachte ich in den 49er einzusteigen, um meinen Beschützer auf taktvolle Weise loszuwerden. Ich hüllte mich warm in meinen neuen Wollmantel, den ich mir nach langem Sparen und Rechnen erst gegen Ende des Winters beim Räumungsverkauf erstanden hatte. Ein Blick zur Seite genügte mir, um festzustellen, daß meines Begleiters Mantel – ein heller, nicht ganz sauberer Trenchcoat – für die Jahreszeit zu leicht und überdies etwas schadhaft war. Das bildete einen merkwürdigen Widerspruch zu der tadellosen Paßform seines schwarzen Sakkos und der graugestreiften Hose.

      Wahrscheinlich wohnte der junge Mann allein in Wien und ging hier seinen Studien nach. Vielleicht war er der Sohn eines Gutsbesitzers oder eines in der Provinz lebenden Industriellen. Jedenfalls schien sich hier niemand um ihn zu kümmern. Man ließ ihm freie Hand in der Dosierung der bequemen Lebensgewohnheiten eines Studenten innerhalb der selbstverständlichen Ansprüche eines Jünglings aus reichem Haus.

      Worüber sprachen wir? Natürlich über Traviata. Der junge Mann fand alles herrlich: die Aufführung, die Sänger, die Oper. Sein Enthusiasmus freute mich. Anscheinend hafteten dem Sprecher weder die Blasiertheit noch das Banausentum an, für die junge Leute aus begüterten Kreisen so anfällig sind.

      Ich beeilte mich daher, ihn in seiner günstigen Meinung zu bestärken. Das fiel mir nicht schwer, da ja die Aufführung besonders geglückt gewesen war. Nur bezüglich des Librettos erlaubte ich mir einige Bedenken, indem ich sagte, man könne es heutzutage kaum noch begreifen, daß gesellschaftliche Vorurteile solcher Art zum Trennungsgrund für Liebende werden konnten.

      Der junge Mann sah mich erstaunt an.

      »Wieso?« fragte er. »Aber bedenken Sie doch, Alfred ist ein Baron, und sie, die Violetta … Er muß doch Rücksicht nehmen auf seine Familie, auf die Schwester, den Vater. Oh, ich kann mich am besten in den Vater hineindenken. Das ist ein wirklicher Gentleman. Aber ich wäre wohl noch strenger zu meinem Sohn.«

      War es taktlos von mir gewesen, dies Thema zu berühren? Nun, wenn ja, dann war es doch auch ein wenig unfein und anmaßlich von ihm, seinen Klassendünkel mir gegenüber, die er doch unmöglich für eine Gleichgestellte halten konnte, so zu betonen. Jedenfalls war ich nun nicht gewillt, meinen Standpunkt aufzugeben.

      »Da hätten Sie unrecht«, sagte ich, »und bis Sie einmal Ihrem Sohn gegenüber in eine solche Lage kommen, werden Sie Ihre Meinung sicherlich noch revidiert haben. In Ihren Jahren laufen Sie übrigens weit eher Gefahr, die Rolle Alfreds zu spielen.«

      Ich konnte mir den strengen Ton erlauben, vor allem weil ich älter war, dann aber auch meines Buckels wegen, der mich von vornherein von jeder subjektiven Anteilnahme ausschaltete.

      Er sah mich einen Augenblick an, ehe er antwortete: »Ich hab ja gar keinen Vater … Das heißt, ich hab längst keinen mehr!« setzte er überstürzt hinzu, als bedürfe der erste Teil seines Satzes einer Erläuterung.

      Ich ließ nicht locker. »Was würden Sie dazu sagen, wenn man Ihnen einfach die Zukunft zerstörte, um Ihrer Schwester zu einem sehr zweifelhaften Eheglück zu verhelfen?«

      »Meine Schwester?« verwunderte er sich. »Die kriegt bestimmt keinen Mann mehr … Wer redet von uns? Aber in diesen Kreisen hat man doch etwas Höheres, wofür man sich einsetzen muß, als Liebe …«

      In diesen Kreisen? dachte ich. Das klingt nicht so, als ob er dazugehörte. Sollte ich mich getäuscht haben?

      Aber warum

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