Talmi. Oskar Jan Tauschinski

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Talmi - Oskar Jan Tauschinski

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wieder eine Tür. Vielleicht können wir sie morgen wenigstens mit einem Vorhängeschloß versehen, sonst muß Margot daheim bleiben, und ich gehe allein ins Geschäft, um im dortigen Luftschutzkeller »acte de présence« zu machen.

      Kein Raum eignet sich jetzt so gut zur Meditation wie der Luftschutzkeller. Die Ecke, in der ich sitze, ist finster und still. Die alte Klavierlehrerin mir gegenüber betet stimmlos ihren Rosenkranz und schläft zwischendurch immer wieder ein. Wenn Margot oder die Lehrmädchen nicht dahergehummelt kommen, um ihre Sensationsnachrichten loszuwerden, dann habe ich Zeit, mich auf deine Geschichte, Ernstl, – mein eigentliches Werk jetzt – zu konzentrieren. So ist mir heute unsere dritte Begegnung greifbar deutlich wieder eingefallen:

      Es mochte etwas mehr als ein Jahr verflossen sein, seit ich den jungen Mann mit seinem Brotauto hatte davonfahren sehen. Ich will nicht leugnen, daß ich in der ersten Zeit meine Einkäufe bei der Milchfrau absichtlich in der Früh tätigte. Mehrmals gelang es mir, das keineswegs pünktliche Eintreffen des Lieferwagens abzuwarten. Gelegentlich kam ich gerade noch zurecht, um es fortfahren zu sehen. Aber neben dem grämlichen Brotausträger saß stets ein magerer, dunkelhäutiger Mensch am Lenkrad. Anscheinend hatte mein junger Freund in diesem Bezirk nur aushilfsweise Dienst gemacht.

      Mit der Zeit gab ich es auf. Ich sah auch ein, daß es sinnlos war, meine Tageseinteilung nach einem belanglosen Chauffeur mit Tanzstundenmanieren und der Mentalität eines Backfisches zu machen. Uninteressante Leute hatte ich genug im Geschäft. Meine einzige geistige Ansprache war damals Aglaia. Zu ihr ging ich lernen in jeder Hinsicht – nicht nur im eigentlichen, handwerklichen Sinn.

      Der Unterricht bei ihr begann meist mit ernster Arbeit. Aglaia setzte eine strenge Miene auf, sprach und erklärte an Hand lebender Modelle. (Sie kannte eine Unzahl von jungen, freundlichen Menschen, Burschen und Mädchen, die mit Begeisterung stillsaßen und stolz waren, Modell spielen zu dürfen.) Ich arbeitete unter ihrer Anleitung in Ton und Wachs, und diese schmiegsamen Materialien, die sich von Hand und Spachtel gefügig formen ließen, kamen meiner schwächlichen Begabung so entgegen, daß ich mich oft wunderte, wie rasch sich unförmige Klumpen belebten und Gestalt annahmen.

      Aglaia selbst war nicht entzückt darüber.

      »Ich wollte«, sagte sie, »du müßtest härter um die Form ringen. Es fällt dir zu leicht. Du spielst, wo du arbeiten solltest. Die Kunst muß einen recht sauer ankommen, sonst bleibt man sein Leben lang ein vielversprechender Dilettant.«

      Leider hatte sie recht! Wenn ich nämlich versuchte, meine flotten Figurinen aus den tönernen Skizzen in Stein zu übertragen, dann sah ich erst, wie wenig ich vermochte. Ich plagte mich und schwitzte. Meine Hände bekamen Schwielen, aber der Block vor mir blieb so steinern und unbeseelt, daß Aglaia, die vorhin mit Lob gegeizt hatte, nun nicht genug Worte des Zuspruchs und der Aufmunterung finden konnte, um meine Verzweiflung zu lindern.

      Am späten Abend kam meist Aglaias Freund, Berti. Es war rührend und ein wenig peinlich, zu sehen, wie sich ihre derben Züge verschönten und ihre energische Männlichkeit schmolz, wenn dieser schmächtige Mensch das Zimmer betrat. Er war fast zwei Jahrzehnte jünger als sie und damals noch weit von den Dreißig entfernt. Dennoch wirkte er nicht jung. Aglaia mit ihrem graumelierten Löwenhaupt und ihrem ältlichen, von vielen Runzeln gezeichneten Antlitz mußte Jugendfrische, beschwingte Lebendigkeit und Elan für sie beide aufbringen.

      Um der übertriebenen Adrettheit willen, die Bertis Außeres kennzeichnete und die offenbar jene Bemühungen widerspiegelte, mit denen er die Zwiespältigkeit seines Wesens »adrett« zu halten versuchte, nannte Aglaia ihn scherzhaft Thomas Buddenbrook, pflegte dann aber bei dem Gedanken an den frühen und plötzlichen Tod dieser Romangestalt stets zu erschrecken und eine ihrer alttestamentarischen Beschwörungsformeln zu murmeln, die ähnlich lauteten wie: »Dir zum Leben!« oder: »Bis hundert Jahr’!«

      Bertrand Lamarque – so hieß Berti – war kurz nach dem vorigen Krieg als französischer Student in Wien aufgetaucht, mit der Absicht, ein bis zwei Semester Germanistik und Kunstgeschichte zu hören. Ich weiß nicht, bei welcher Gelegenheit er Aglaia kennenlernte; jedenfalls scheint er sehr bald zur Überzeugung gelangt zu sein, daß sie ihm die Sicherheit gab, die er brauchte, und daß nur in ihrer Nähe das Leben lebenswert war. Nach Frankreich zog ihn nichts zurück. Er war Vollwaise, und die geringe Barschaft, die seine Großmutter ihm hinterlassen hatte, war ohnedies längst für sein Studium verausgabt.

      Nun verdiente er sich seinen Unterhalt schlecht und recht als Journalist und Übersetzer. Einen »geistigen Gelegenheitsarbeiter« nannte er sich, was nicht ganz zutraf, da er des Sommers auch als Tennistrainer tätig war. Dieser geliebte Sport ging, als Beruf ausgeübt, stets über seine Kräfte, so daß er gegen Saisonende tiefliegende Augen bekam und an heftigen Migränen litt. Aber warum schreibe ich dies alles, da ich doch nur Ernstls Schicksal rekonstruieren will? – Ja natürlich, weil ich mich gerade auf dem Wege zu Aglaia befand und es sogar ziemlich eilig hatte, als ich auf der Gasse hinter mir rasche Schritte vernahm und eine bekannte, doch nicht gleich erkannte Stimme sagen hörte:

      »Oh, Sie gehen aber rasch! Ich kann Sie kaum einholen.«

      Es war mein Brotwagenchauffeur. Mit seinen vom Laufen geröteten Wangen und den windzerzausten, sehr hellblonden Locken sah er strahlend aus. Heute wirkte alles natürlich und echt an ihm. Er war der gesunde, sportliche Bursche, etwas gewöhnlich, aber sympathisch, freundlich und aufgeschlossen. Es schien unbegreiflich, daß solch lebensnahen Jüngling Traviatas Arientod zu Tränen gerührt haben sollte. Sein Trenchcoat war frisch gereinigt. Man sah darunter eine neue, hellbraune Hose aus dickem englischem Wollstoff und ebenfalls neue, modische Straßenschuhe.

      »Wie gut, daß ich Sie noch treffe«, sagte er. »Ich bin oft an Ihrem Haus vorbeigegangen, hab’ aber nicht gewagt, Sie zu besuchen. Ich hatte Ihren Namen vergessen und wollte nicht nach Ihnen fragen.«

      »Oh, das hätten Sie aber ruhig tun können«, sagte ich und empfand den Gedanken, daß er mich hatte wiedersehen wollen, wohltuend. Gleich wurde ich mir aber der Lächerlichkeit dieser Anwandlung bewußt, und ich fügte, um mich selbst zu bestrafen, hinzu: »Es gibt nur eine Bucklige im Haus.«

      Er sah mich etwas bestürzt an, so als sei er auf diese allzu direkte Antwort nicht vorbereitet gewesen. Aber er faßte sich schnell und sagte mit einem Anflug von Verlegenheit, die ganz natürlich und darum rührend klang: »Ich … ich hab halt nicht gewußt, ob sich das schickt.«

      »Alles schickt sich, was freundlich gemeint ist.«

      Sein Blick verriet mir, daß ihm diese banale Eröffnung neu war und daß er ihr keinen Glauben schenkte.

      Unweit der Piaristenkirche blieb er vor dem Schaufenster eines Antiquitätenhändlers stehen.

      »Schauen Sie«, sagte er und wies auf einen wirklich sehr hübschen Barockputto, der anachronistisch auf dem Rand eines Empireschreibtisches saß. »Ich komme fast jeden Tag hierher und stehe vor der Auslage. Ich liebe dieses Engelchen!«

      Dieser letzte Satz hatte ein wenig affektiert geklungen. Ich betrachtete meinen Begleiter von der Seite. War es möglich, daß ein junger Lastwagenfahrer für Antiquitäten schwärmte?

      Er bemerkte meinen prüfenden Blick wohl nicht, wie er überhaupt kaum noch zu wissen schien, daß ich neben ihm stand. »Wenn der so auf meinem Bücherkasten sitzen tät’ … so auf einer Ecke, wissen Sie …«

      »Haben Sie einen Bücherschrank?«

      »Nein … noch nicht«, gab er zögernd zurück. »Aber bei unserem Generaldirektor sitzt ein Engel auf der Bücherwand. Das macht einen sehr vornehmen Eindruck.«

      Ich mußte lachen.

      »Übrigens

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