Turmschatten. Peter Grandl
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Es mussten Stunden vergangen sein, die Esther reglos verbrachte, denn die Sonne stand bereits tief am Horizont und die Schatten des Schulranzens, der Schuhe und der umgefallenen Milchtüte rückten immer näher.
Dann schrie sie. Sie schrie minutenlang. Doch sie konnte ihren eigenen Schrei nicht hören und versuchte lauter zu schreien, bis ihre Kehle brannte und ihre Stimmbänder erlahmten. Schließlich stand sie auf, stieg über die eingetrocknete Milchlache, nahm das Obstmesser ihrer Mutter und schnitt sich die Pulsadern auf. Das Letzte, was sie dachte war: Endlich frei.
Rabbi Moshe traf Esther in Jerusalem in einer psychiatrischen Anstalt. Die Nachbarn hatten Esthers Schreie gehört und die Polizei alarmiert. Die Hilfe kam schnell, gerade noch rechtzeitig. Noch immer galt sie als stark suizidgefährdet. Als Rabbi Moshe sie zum ersten Mal besuchte, hatte man sie an ihr Bett fixiert. Behutsam versuchte er, ihr Vertrauen zu gewinnen. Mit Engelsgeduld erzählte er ihr seine eigene tragische Geschichte, von seinem eigenen Verlust – und davon, dass sein Bruder ihr das Leben gerettet hatte. Dabei bewegte er seine Lippen langsam, damit sie die Worte sehen konnte, sprach laut und untermalte jedes Wort mit Gesten oder schrieb komplizierte Wörter auf ein Stück Papier. Es dauerte zwei Wochen, in denen er täglich bei ihr war, bis Esthers glasiger Blick Rabbi Moshe wahrzunehmen schien. Es dauerte zwei weitere Wochen, bis sie ihm ein erstes Mal zunickte.
Rabbi Moshe hatte mittlerweile herausgefunden, dass sie in Israel keine weiteren Verwandten hatte und die nächsten Verwandten in Polen lebten. Diese hatten aber bereits zu ihrem Großvater den Kontakt abgebrochen und Esther nie kennengelernt. Rabbi Moshe hatten sie unmissverständlich klar gemacht, dass sie das behinderte Mädchen nicht haben wollten und auch nicht aufnehmen würden.
Es kam der Tag, da musste Rabbi Moshe Jerusalem wieder verlassen. Der Abschied von Esther fiel ihm schwer. Sie weinte stumm, Tränen liefen ihr über die Wangen, aber ihr Gesicht war wie versteinert. Er versprach, wiederzukehren, doch sie glaubte ihm nicht.
Genau zu dieser Zeit lernte der Rabbi in seiner deutschen Gemeinde Ephraim Zamir kennen. Er spürte sofort, wie alles zusammenpasste, wie sich alles zum Guten fügen ließ. Ja, Gott hatte einen Plan, und er war sein williger Gehilfe.
Nach geraumer Zeit und Dutzenden von Telefonaten, Anträgen und bürokratischen Hürden gelang es dem hartnäckigen Rabbi, Esther Goldstein nach Deutschland einreisen zu lassen. Sie selbst hatte eingewilligt, seine Hilfe und Fürsorge anzunehmen. Seit sie wusste, dass Rabbi Moshe ihr in Deutschland ein neues Zuhause schaffen wollte, stellten ihre Ärzte eine deutliche Verbesserung ihres Zustands fest und stimmten, wenn auch unter Vorbehalt, ihrer Entlassung zu.
Als der Schnee schmolz und der Frühling die Welt in ein kräftiges Grün tauchte, besuchte Rabbi Moshe Ephraim Zamir zum ersten Mal in seinem neuen Zuhause.
Der Umbau des Turms, den Zamir vor Monaten erworben hatte, lag in den letzten Zügen. Hätte er damals geahnt, wie streng die Auflagen bei einem denkmalgeschützten Gebäude waren, hätte er sich den Kauf des alten »Steinhaufens«, wie er ihn gerne nannte, zweimal überlegt. Doch nun war zumindest das obere Drittel des Turms in eine beeindruckende Dachwohnung umgewandelt worden, die einen weiten Blick auf die Umgebung bot.
Rabbi Moshe, der sonst eher wortkarg und zurückhaltend war, kam diesmal schnell zur Sache und berichtete ausführlich von Esther Goldsteins Geschichte. Er schmückte nichts aus, er dramatisierte nichts, sondern hielt sich an die Fakten. Egal, wie groß sein Wunsch auch war, Esther zu helfen, er wollte sie auf keinen Fall anpreisen wie eine Ware. Am Ende seines Monologs bat er Ephraim, Esther Goldstein als Haushälterin einzustellen und ihr eine Unterkunft zu geben.
Ephraim konnte später nicht mehr genau sagen, wie es geschah und was die Beweggründe für seine Entscheidung waren, aber kaum hatte der Rabbi seine Bitte ausgesprochen, willigte er ohne Wenn und Aber ein. Die beiden tranken daraufhin ihren Tee. Gesprochen wurde kaum mehr. Es war alles gesagt. Rabbi Moshe wusste, Gottes Wille war geschehen.
Seit dem Gespräch der beiden Männer war über ein halbes Jahr vergangen. Ephraim und Esther waren zusammengewachsen wie Vater und Tochter. Für Ephraim war es deshalb nur ein logischer Schritt, diese Bindung auch vor dem Gesetz zu vollziehen und Esther zu adoptieren.
Es war jener schicksalhafte 16. Oktober 2010, an dem er vorhatte, Esther nach dem Gottesdienst um ihre Einwilligung zu bitten. Der orkanartige Sturm der vergangenen Nacht hatte seine Spuren hinterlassen. Bäume waren entwurzelt worden, die Dachschindeln zahlreicher Häuser lagen auf der Straße, und vereinzelt hatte es Plakatwände aus ihren Verankerungen gerissen. Auf dem Weg zur Synagoge, oder genauer zu dem Gemeindesaal, der vorübergehend dem Rabbi als Ersatz diente, sprachen Esther und Ephraim kaum ein Wort miteinander. Er lauschte gebannt den Sondermeldungen im Radio, während sie aufmerksam die Sturmschäden betrachtete, an denen sie vorbeifuhren. Der Anblick erinnerte Esther an ein Kriegsgebiet, durch das sie als Kind einmal gefahren waren.
Ein junger Mann stand weinend vor seinem Motorrad, auf das ein Baum gestürzt war. Eine Familie kehrte im Vorgarten die Scherben eines großen Terrassenfensters zusammen. Die blauen Einsatzwagen des Technischen Hilfswerks rasten mit Blaulicht an ihnen vorbei und halfen bei den dramatischeren Fällen. Der Radiomoderator berichtete von einem Hochspannungsmast, der an einer Hanglage in die Tiefe gestürzt war und eine Scheune unter sich begraben hatte. Ein junges Pärchen war kurz zuvor in eben jene Scheune geflüchtet. Zum Glück hatten beide überlebt.
–
Wie üblich hatte der Gottesdienst am Samstagmorgen um halb zehn mit der festlichen Tora-Prozession begonnen. Rabbi Shlomo Moshe trug die in rotes Tuch gehüllte und mit silbernen Ketten verzierte Tora-Rolle zu einem Podium in der Mitte des Gemeindesaals, während ein Männerchor hebräischen Gesang anstimmte. Inzwischen war all das für Ephraim ein vertrautes Ritual geworden. Doch damals, als er das erste Mal an einer Sabbat-Feier in der Synagoge teilgenommen hatte, war es ihm irgendwie falsch und heuchlerisch vorgekommen. Nach dem Krieg und selbst in der Zeit, in der er in Israel gelebt hatte, war er nie in eine Synagoge gegangen oder hatte sich an Gott gewandt. Gott existierte für ihn schlechtweg nicht – zumindest kein Gott, der angeblich gütig und liebevoll sein sollte. Ein Gott, der zuließ, dass die Nazis sechs Millionen Juden hingeschlachtet hatten. Nein, es konnte keinen Gott geben. Doch nun saß er schon seit Wochen regelmäßig am Samstag in der Synagoge und feierte den Sabbat. Und jedes Mal, wenn er dort saß, blickt er auf Esther und konnte durch sie fühlen, was Glaube zu schaffen vermochte. Es war nicht so, dass er zum gläubigen Juden geworden war, aber er gewann Tag für Tag ein stärkeres Verständnis für alle jene, die Kraft aus ihrem Glauben schöpften und dadurch lernten, das Leben besser zu meistern oder gar ein besserer Mensch zu sein. Er sah Esther aus den Augenwinkeln an, wie sie Rabbi Moshes Lesung aus der Schriftrolle folgte und merkte, wie Erinnerungen an seine Mutter aus frühester Kindheit wach wurden. So lauschte auch er der Lesung der Parascha und fühlte, wie sich die Worte wärmend um seine Seele legten.
Zwei Stunden später folgten Esther und Ephraim dem Strom der Gläubigen hinaus aus dem Gemeindesaal. Ephraim trug den einzigen Anzug, den er besaß. Er war dunkelblau und saß an den Schultern deutlich zu eng, was auch an dem beigefarbenen Pullover aus grober Schurwolle lag, den er darunter trug.
Der geteerte, graue Vorplatz war übersät von abgebrochenen Ästen und Zweigen.
Noch immer wehte ein starker Wind. Esther schlug den Kragen hoch, während Ephraim seinen Arm schützend um sie legte. Rabbi Moshe war ihnen mit schnellen Schritten gefolgt. Etwas außer Atem rief er Ephraims Namen.
»Ephraim