Turmschatten. Peter Grandl
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»Dieser alte Mann …«, er zeigte auf ein schlechtes Foto von Ephraim Zamir, »… ist der jüdische Geldsack, der unsere deutsche Stadt in einen Schandfleck verwandeln wird, auf die andere Kameradschaften angewidert mit dem Finger zeigen werden!«
Der Zwischenruf einer Kinderstimme erntete laute Zustimmung: »Lyncht die Judensau!«
Es war Thomas gewesen, der nun selbst auf einem Stuhl stand und aus voller Kehle den Satz immer wieder wiederholte, bis die Kameraden irgendwann zu lachen begannen und Thielen den Jungen anwies, nun leise zu sein.
Kaum hatte Thomas sich wieder gesetzt, zeigte Thielen auf Gottfried Wegener und winkte den bulligen Kerl mit der Schlangentätowierung am Hals zu sich.
»Ich glaube nicht, dass wir den alten Mann gleich umbringen müssen. Wir sind doch keine Unmenschen, oder, Steiner?«
Alle lachten, und Karl wunderte sich darüber, wie wenig die meisten hier verstanden, dass man sie gerade vorgeführt hatte. Es war so leicht, diese zornige Masse zu manipulieren.
Gottfried stand nun mit finsterem Gesicht neben Thielen, der ihm eine Hand vom Schemel herab auf die Schulter legte.
»Es wird völlig ausreichend sein, wenn Steiner und Kamerad Udo dem Itzig einen Besuch abstatten und ihm ganz … vernünftig … unsere Argumente unterbreiten.«
Dabei zeigte sein Gesicht ein teuflisches Grinsen.
»Und damit sich dieser Jude unsere Argumente auch anhört, wird unser jüngster Kamerad den beiden dabei helfen.«
Alle Blicke richteten sich auf Thomas Worch, und die Kameraden klopften anerkennend mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatten.
Thomas platzte fast vor Stolz, doch Karl schnürte es die Kehle zu.
Was sie da vorhatten, war höchst gefährlich. Der Jude war ihm egal, sollten Steiner und Udo mit ihm machen, was sie wollten, aber warum musste Thomas mitkommen?
Karl stand auf. Kaum einer hatte ihn bis jetzt bemerkt, und nun waren die meisten überrascht, ihn wiederzusehen. Karl war so etwas wie ihr heimlicher Anführer, nicht so ein geleckter Parteibonze wie Thielen. Karl war einer von ihnen. Sofort wurde es mucksmäuschenstill im Raum.
»Thielen, das kannst du nicht bringen. Thomas ist noch ein Kind, und ich kann mir nicht vorstellen, wobei er Steiner und Udo helfen könnte«, sagte Karl.
Thomas konnte den Zorn auf seinen Freund nicht verbergen.
»Ich bin kein Kind mehr, du Arschloch! Ich bin fast vierzehn!«
Noch bevor Karl etwas sagen konnte, übertönte Thielen ihn mit dem Mikrofon.
»Mit vierzehn haben unsere Väter bereits mit Panzerfäusten russische Panzer vernichtet. Karl, extreme Zeiten erfordern extreme Maßnahmen.«
Aber so leicht wollte sich Karl nicht geschlagen geben.
»Was zum Henker kann Thomas denn schon machen, was Steiner und Udo nicht können?«
Thielen sah kurz seinen Assistenten an und nickte leicht. Ein Bild von Zamirs Turm erschien auf der Leinwand. Es musste erst vor kurzem gemacht worden sein. Vor dem Turm lagen überall große Äste herum.
»Hier in diesem alten Turm lebt dieser Itzig. Der einzige Eingang ist eine erhöht liegende Pforte – und zwar hier.«
Thielens Hand warf einen Schatten auf die Stelle, an der die beiden geschwungenen Treppen vor der Eingangstür endeten.
»Die ersten Fenster beginnen in einer Höhe von vier Metern«, fuhr er fort. »Denkst du, der Jude öffnet den beiden so ohne Weiteres die Tür? Ich meine, ich kann Steiner gut leiden, aber er sieht nun mal nicht aus wie einer der Zeugen Jehovas, oder?«
Nun musste auch Steiner lachen.
»Thomas wird unser trojanisches Pferd sein in dieser Festung!« Daraufhin gab es lauten Beifall.
Karl wusste, an dieser Stelle hatte er keine Chance mehr. Man hatte längst einen Plan, und den hatten sie ohne ihn gemacht. Noch vor fünfzehn Monaten wäre das undenkbar gewesen. Es war erstaunlich, wie schnell sein Einfluss geschwunden war. Um Thomas zu beschützen gab es nur noch eine Möglichkeit.
»Dann komme ich mit!«
Die Menge verstummte.
Thomas’ Wut war sofort verflogen. Karl bei einer so spannenden Aktion dabei zu haben – etwas Schöneres konnte er sich nicht erträumen.
Thielen reagierte zurückhaltend.
»Das ist keine gute Idee. Du bist auf Bewährung draußen. Es reicht, wenn dich irgendwer mit den beiden sieht – und schon locht man dich wieder ein. Und wie ich dir gesagt habe, wir haben andere Pläne mit dir.«
Steiner sprach nicht viel, und Diplomatie war auch nicht seine Stärke, aber jetzt sagte er: »Mensch Karl, wir sind keine Amateure. Der alte Jude wird hundertpro niemanden erkennen – und wenn doch, wird er eine Scheißangst haben und sein Maul halten.«
Karl blieb standhaft: »Ich komme mit, oder Thomas bleibt hier. Das ist mein letztes Wort.«
Damit setzte er alles auf eine Karte. Kein anderer hätte es gewagt, so mit Thielen zu reden, ihn vor versammelter Mannschaft derart herauszufordern.
Thielen überlegte. Er konnte Karl nicht mehr einschätzen. War er noch der Alte, oder hatte der Knast ihn verändert wie viele andere gute Männer vor ihm?
Er setzte das Mikrofon wieder an den Mund.
»Vielleicht ist es gar nicht so dumm, dich mitzunehmen. Ich meine, reden kannst du immerhin – und wenn wir Glück haben, muss Steiner von seinen Überzeugungskünsten gar keinen Gebrauch machen. Also gut – du bist dabei!«
Karl atmete tief durch. Zumindest war gesichert, dass er bei dieser Aktion in Thomas’ Nähe war. Und sobald sie im Turm waren, könnte er den Kleinen nach Hause schicken, bevor es wirklich brenzlig wurde.
Auch die Kameradschaft war offensichtlich erleichtert, dass sich ihre beiden Anführer so schnell geeinigt hatten. Es wurde gelacht und gefeixt, und einer schlug vor Übermut Thomas kräftig auf die Schulter. Thomas steckte den Schmerz weg und lachte gezwungen.
Thielen meldete sich nochmals zu Wort und hob den rechten Arm, gestreckt zum Hitlergruß.
»Kameraden!«
Wie auf ein geheimes Zeichen verebbten die Gespräche, die Glatzköpfe standen auf, stellten sich stramm nebeneinander und erwiderten den Hitlergruß. Dann begannen sie wie üblich zum Abschluss der Zeremonie die Parteihymne der NSDAP zu singen. »Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! SA marschiert mit mutig festem Schritt. Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschiern im Geist in unsern Reihen mit.«
Karl hatte sich unbemerkt in die letzte Reihe verzogen. Heute war ihm nicht danach, das Horst-Wessel-Lied zu singen. In Gedanken war er wieder bei der Bewährungshelferin.
Er wartete das Ende des Liedes nicht ab, sondern machte sich auf den Weg, ohne sich von seinen Kameraden zu verabschieden. Er wusste nun, was zu tun war.