Turmschatten. Peter Grandl
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Читать онлайн книгу Turmschatten - Peter Grandl страница 18
Marie unterbrach ihn schroff.
»Ich tue, was ich tun muss, und Sie tun, was Sie tun müssen.«
Sie hatte das Gefühl, langsam die Oberhand zu gewinnen und merkte, wie Rieger mit sich rang. Das Trommeln seiner Finger auf dem Tisch wurde schneller und endete plötzlich abrupt.
»Thomas ist für mich wie ein Bruder. Ich bin der Einzige, der ihn versteht, der Einzige, der sich wirklich um ihn kümmert. Wenn’s irgendwie geht, ist er bei mir und nicht bei seiner Scheiß-Mutter.«
»Soweit ich hier sehe, kommt Thomas aus gutem Elternhaus. Wo liegt das Problem?«
Karl lachte bitter auf.
»Seine Eltern? Die sind geschieden, sein Scheiß-Vater hat ihn seit der Scheidung kein einziges Mal gesehen, hat sogar vor Gericht erreicht, dass er sich ihm nicht nähern darf, und seine Mutter ist eine Hure, die es jede Woche mit einem anderen Kanaken treibt.«
»Warum hat er keine gleichaltrigen Freunde?«, hakte Marie nach und versetzte ihm nun ganz bewusst einen Stich, indem sie die nächste Frage langsam auf der Zunge zergehen ließ: »Warum lässt er sich mit Ihnen ein?«
Augenblicklich fuhr Rieger aus der Haut.
»Sie haben doch keine Ahnung! Sie sitzen hier in Ihrer kleinen, heilen Welt, haben sich die Dinge zurechtgerückt, wie Sie sie brauchen, und denken, Sie haben den Durchblick. Einen Scheiß haben Sie!«
Nun war es an Marie, ein süffisantes Lächeln aufzusetzen.
»Dann erklären Sie es mir.«
Karl zerrte wütend das gelbe, zusammengefaltete Flugblatt, das er Thomas abgenommen hatte, aus seiner Tasche und warf es Marie gegen die Brust.
»Das hier ist die Scheißwelt, in der wir leben.«
Neugierig entfaltete Marie den gelben Zettel und überflog ihn, während Karl seinem Zorn weiter freien Lauf ließ.
»Wenn seine Mutter auch nur einen Funken Liebe für ihren Sohn hätte, würde sie diesem Dreck in der Nachbarschaft den Krieg erklären und sich Respekt verschaffen. Aber selbst wenn diese Hure den Mumm hätte, das zu tun, hätte dieser Abschaum die Polizei auf seiner Seite. Die stecken nämlich alle unter einer Decke. Und dann, dann würden sie Thomas in irgendein Heim stecken, wo er hilflos irgendwelchen Arschfickern ausgeliefert wäre. So läuft das. Ein scheiß System ist das, ein scheiß System!« Resigniert wiederholte er sein Fazit fast flüsternd ein weiteres Mal: »Ein scheiß System.«
Nur langsam beruhigte er sich. Sein Atem ging immer noch schnell und seine Gesichtsmuskeln zuckten leicht. Marie hatte inzwischen das Flugblatt gelesen.
»Darf ich das behalten?«
»Von mir aus tapezieren Sie sich das Klo damit.«
Marie glaubte, Karl Rieger an einem Punkt zu haben, an dem er zuhören würde. Der Schlüssel zum Erfolg lag ihrer Meinung nach eindeutig bei seinen Gefühlen für diesen Jungen. Also versuchte sie es: »Ich kann Thomas helfen.«
Karl lachte laut auf, und sie wusste sofort, dass sie diesen Trumpf viel zu früh ausgespielt hatte.
»Sie? Na klar, Sie schicken ein paar verständnisvolle Briefe, vielleicht rufen Sie auch mal an. Super. Sie sind so naiv, aber keine Sorge, ich löse das Problem. Verlassen Sie sich drauf!«, blaffte er sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Vielleicht war es die Wut auf sich selbst, vielleicht war es aber auch die Wut auf diesen impulsiven, unkontrollierbaren Neonazi, dessen Zukunft sie bereits jetzt in Schutt und Asche liegen sah, die auch sie wieder laut werden ließ.
»Hören Sie sich eigentlich manchmal selbst zu? Wer ist jetzt hier naiv? Sie lösen das?« Dabei zeigte sie wütend mit dem Finger auf ihn. »Was nützen Sie denn diesem Jungen, wenn Sie wieder eingesperrt werden? Darf er Sie dann wieder jahrelang im Gefängnis besuchen? Große Klasse, Ihr Plan, ganz große Klasse!«
Schweigend saßen sich gegenüber. Sie hatten sich festgefahren. Marie hatte das Gefühl, das ganze Treffen war ein Fiasko gewesen. Sie hatte es sich vollkommen anders vorgestellt, wollte einfühlsam und verständnisvoll sein, wollte mit geschulter, psychologischer Raffinesse die Kontrolle behalten und schließlich den Klienten für sich gewinnen. Ja, sie wollte mit hoch erhobenem Haupt aus diesem Treffen schreiten. Mit der Gewissheit, die Welt verbessern zu können. Stattdessen hatte sie komplett versagt.
Marie musste erst einmal ihre Kräfte sammeln und eine neue Strategie entwickeln. Sie brauchte Distanz. Distanz zu diesem – sie getraute es sich kaum einzugestehen – widerlichen Kotzbrocken.
»Wir beenden das jetzt, es gibt hier nämlich Menschen, die meine Hilfe annehmen, und offensichtlich gehören Sie nicht dazu.«
»Wow!« Karl Rieger war überrascht. Eigentlich hatte er gerade damit begonnen, diese Stresemann irgendwie zu schätzen. Sie war anders, nicht so wie dieser Türke oder die Sozialarbeiter aus dem Knast. Die hier war irgendwie ehrlich.
Fast enttäuscht sagte er: »Heißt das, ich kann gehen?«
»Das heißt, dass Sie am Montag um zehn Uhr hier wieder auf der Matte stehen. Das heißt, ich besorge Ihnen einen Job. Und das heißt, wenn ich auch nur einen Hauch davon mitbekomme, dass Sie gegen Ihre Auflagen verstoßen, werde ich keine Sekunde zögern, Sie wieder in Verwahrung nehmen zu lassen. Sie finden den Ausgang.«
Marie Stresemann drehte sich nicht mehr um, als sie den Besprechungsraum verließ. Sie wollte nur noch weg.
Karl stand langsam auf und sah ihr nach, wie sie am Ende des langen Korridors um eine Ecke verschwand. Wütend schlug er mit voller Wucht auf die offene Holztür. Ein lauter Knall hallte durch die Gänge.
»Scheiße«, murmelte Karl und stellte damit sein ganzes Leben infrage.
KARL II
FREITAG, 15. OKTOBER 2010
Es war Mittag, als Karl sich auf dem Weg zur »Kameradschaft« machte. Irgendwo in der Ferne läuteten Kirchenglocken. In dieser gottverdammten Gegend, die von den schwindenden deutschen Anwohnern gehässig »Klein-Istanbul« genannt wurde, hörte man sonst nie Kirchenglocken.
Wenn wir schon dabei sind, Synagogen in Brand zu stecken, könnten wir mit den Moscheen eigentlich gleich weitermachen, dachte Karl.
Die Zentrale der Kameradschaft genau in diesem Viertel anzusiedeln war Kalkül gewesen. Hundertfünfzig solcher Kameradschaften gab es in Deutschland, allein in Sachsen vierzig mit knapp zweitausend Mitgliedern. Als 1995 die »Freiheitlich Deutsche Arbeiterpartei« als verfassungswidrig erklärt und aufgelöst wurde, organisierte sich die extreme Rechte in »privaten« Vereinen, den »Kameradschaften«. Es war damit deutlich schwerer geworden, neonazistische Täter zu belangen. In einem Zivilprozess beispielsweise hätten alle Mitglieder einer Kameradschaft genannt und verklagt werden müssen. Ein raffiniert gesponnenes Organisationsnetz ermöglichte den Führern der rechten Szene, die nach außen völlig autonom agierenden Kameradschaften wie eine geschlossene Vereinigung zu steuern. Und dass diese Führungsspitze sich in der NPD organisierte, war offensichtlich, aber schwer nachweisbar. Karl hing