Turmschatten. Peter Grandl
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Plötzlich hatte er das Gefühl, wieder Herr seiner selbst zu sein. Was zum Teufel tat er hier? War er gerade dabei, vier Menschen zu ermorden? Er musste an Thomas denken. Was, wenn Thomas hier röchelnd am Boden läge?
Ohne weiter nachzudenken, packte er den Breitschultrigen und zerrte ihn von seinem Freund herunter. Es gab keine Gegenwehr, weder von Cevat noch von seinen verzweifelten Freunden.
Karl hielt Namik mit den Fingern die Nase zusammen und presste seinen Mund auf den des sterbenden Türken. Er blies so fest er konnte Sauerstoff in dessen Mundöffnung, aber der Gegendruck war zu groß. Er ließ ab, holte tief Luft und blickte nach oben in versteinerte Gesichter.
»Scheiße, was glotzt ihr, ruft einen Notarzt, euer Freund krepiert hier!«
Dann setzte er erneut an und presste mit aller Kraft Sauerstoff durch Namiks verengte Kehle. Wenn Namik nicht bald wieder zu sich kommen würde, müssten sie einen Luftröhrenschnitt machen. Erlebt hatte er das auf einer Demo, als Antifas einen Kameraden am Boden in den Hals getreten hatten. Ein Sanitäter rettete ihm durch einen Schnitt in die Kehle das Leben. Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass einer der beiden Türken hektisch telefonierte. Und wieder presste er seinen Mund auf den Mund des anderen. Er spürte, dass die Beatmung ihm nun leichter fiel. Und tatsächlich, der Türke öffnete die Augen.
Cevat versuchte Karl zur Seite zu stoßen, aber Karl ließ nicht von Namik ab, seine Hände hatten sich in dessen Jacke verkrallt. Die Blicke der Kontrahenten prallten aufeinander.
Karls Stimme klang gepresst: »Du musst weitermachen. Verstehst du? Weitermachen, bis der Notarzt da ist.«
Cevat zögerte. Karl lockerte seinen Griff und wich zurück. »Los, mach schon!«
Cevat kniete sich über seinen Freund, holte tief Luft und blies Namik lebensspendenden Sauerstoff in die eingequetschte Luftröhre.
Keiner sagte mehr ein Wort. Karl stand auf und betrachtete eine Weile, wie Cevat um das Leben seines Freundes kämpfte. Dann stahl er sich wortlos davon, während er in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens hörte.
Er hatte einem Menschen das Leben gerettet. Und er hatte soeben all seine Ideale verraten! Er sollte sich dreckig und leer fühlen, aber er war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zufrieden mit sich selbst.
–
»Klein-Istanbul«: Die Ladenzeile, die Karl vollkommen durchnässt im Regen entlangging, war fast ausschließlich von türkischen Geschäften flankiert. Metzger, Gemüsehändler, Import-Export, Friseurläden, sie alle warben in türkischer Sprache. Die Fassaden der Häuser wirkten verwahrlost, Bauzäune waren in dutzenden Schichten mit türkischer Werbung und Event-Plakaten zugepflastert. Der Geruch von gebratenem Fleisch mit Knoblauch kam mit einer dampfenden Rauchwolke aus dem Küchenabzug eines Döner-Imbisses, den gerade eine verschleierte Frau mit drei kleinen Kindern verließ. Sie überquerte die menschenleere Straße und verschwand in einem Hauseingang mit zerbrochener Glastür, die ein schwarzer Graffiti-Penis zierte. Irgendwo aus einem offenen Fenster im dritten Stock drang Oud-Musik, während sich an einem anderen Fenster lauthals ein türkisches Pärchen zoffte. Wind und Regen hatten das Viertel fast leergefegt, aber an sonnigen Tagen erwachte das Leben in »Klein-Istanbul«. Dann verwandelte sich die Straße in einen Basar mit dutzenden von Händlern, die lauthals ihre Ware anpriesen, spielenden Kindern, die zwischen den Beinen der Käufer umherjagten, und alten Männern, die an Klapptischen an ihrem schwarz gebrühten Mokka nippten und das lebendige Treiben verfolgten.
Mitten in dieser Enklave hatte die Kameradschaft Germania ihren Hauptsitz in einer Kneipe, oder, wie Karl es Neulingen gerne blumig beschrieb: »Hier brechen sich die Integrationsbemühungen der deutschen Regierung wie die Gischt an einer felsigen Küste, hier sticht die Kameradschaft Germania heraus wie ein roter Pickel auf einem Türkenarsch.«
In weißer Frakturschrift auf schwarzem Grund markierte der Schriftzug den Eingang zu einer gänzlich fremdenfeindlichen Welt. Auch das auf Hochglanz polierte, schwarze Mercedes S-Klasse Coupé mit kleinem NPD-Logo, das davor parkte, setzte ein eindeutiges Zeichen.
Ein glatzköpfiger Hüne stand mit breiten Beinen an der geöffneten Tür der Kameradschaft und beobachtete die Umgebung, als könnte es jeden Augenblick einen Großangriff der Muslime geben. Trotz der Kälte trug er nur ein schwarzes Muskelshirt, das sich über der Brust spannte und ungeniert auf dem rechten Bizeps ein Hakenkreuz entblößte. Auf dem Shirt stand »Troublemaker Germany« – und das war ganz sicher als Warnung zu verstehen, denn am Türstock neben dem Muskelprotz lehnte ein Baseballschläger, der schon einige Kerben hatte. Türkische Anwohner wechselten in der Regel die Straßenseite vor der Kameradschaft. Wer dennoch der Meinung war, auf sein Recht pochen zu müssen und die Frechheit besaß, das Revier der Kameradschaft zu missachten, der konnte im wahrsten Sinn des Wortes sein blaues Wunder erleben.
Karl näherte sich mit schnellen Schritten dem Hünen, dessen furchteinflößender Gesichtsausdruck bei seinem Anblick schlagartig ein breites Grinsen annahm. Kaum standen sich die beiden gegenüber, umarmte der Hüne ihn heftig und küsste ihn auf die Wange. Dann schob er Karl wieder von sich und betrachtete ihn wohlwollend.
»Karl Rieger! Ich glaub’s nicht. Alte Hackfresse!«
Karl war erschöpft, aber er bemühte sich, die Begrüßung respektvoll zu erwidern.
»SS-Rudi! Hast dich nicht verändert«, sagte er anerkennend.
»Meinst du? Schau dir das an!« Rudi zog sein Hemd hoch, grinste und zeigte Karl eine frisch verheilte Stichwunde. »Hat mir ein Antifa verpasst, hat mich fast die Leber gekostet.«
»Du meinst, was davon noch übrig war.«
Beide lachten laut und klatschten sich ab.
»Und?«, fragte Karl
»Hab ihm seinen Kiefer gebrochen und die Nase zertrümmert. Wenn der von der Intensiv runter ist, braucht er erst mal ein neues Passfoto.«
»Au Scheiße«, schloss Karl das Ritual vorzeitig ab, denn die ewige Prahlerei dieser hirnlosen Kampfmaschinen langweilte ihn, obwohl er natürlich wusste, dass die Bewegung Typen wie SS-Rudi unbedingt brauchte.
Karl zeigte auf den Mercedes. »Thielen schon lange da?«
Rudi nickte. »Hat schon zweimal nach dir gefragt. Hat sich schon heiß geredet da drin.«
»Na dann … Halt die Straße sauber!«
Mit diesen Worten ging Karl an Rudi vorbei ins Innere der Kneipe. Die schneidende, laute Stimme von Thielen drang an seine Ohren, und er tauchte ein in einen Dunst aus Schweiß, Rauch und Hass.
Der Versammlungsraum war größer, als man von außen vermuten mochte. Einst war es eine Wirtschaft, in der es traditionelle deutsche Küche und Bier vom Fass gab, aber aufgrund der Lage blieb irgendwann die Kundschaft aus, und die Brauerei, der das Anwesen gehörte, versuchte vergeblich einen Pächter zu finden, der in diesem Stadtteil auch weiterhin auf »deutsche Gemütlichkeit« setzen wollte. Bei einer Anfrage durch einen seriösen Mittelsmann verpachtete man schließlich die komplett renovierungsbedürftige Kneipe zu überhöhten Preisen an die Wilhelm-Tietjen-Stiftung, einer Tarnfirma der rechten Szene, und vereinbarte eine Mindestabnahme an Bierlitern pro Monat. Vor der Tatsache, dass ein rechtsradikaler Verein die Räumlichkeiten bezog, verschlossen die konservativen Kräfte der Brauerei die Augen und freuten sich insgeheim sogar, dass es an diesem »Schandfleck« der Stadt bald Ärger geben würde.
Man