Turmschatten. Peter Grandl
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AUGUST 1991
Als Marie zehn Jahre alt war, leistete sich ihre Familie im Sommer einen Urlaub in einer All-Inclusive-Ferienanlage in Griechenland. Marie verbrachte die meiste Zeit im Zimmer oder streunte durch die Gegend. Sich mit Mama, Papa und ihrem nervenden Bruder an den Strand oder an den Pool zu legen, war eine grauenvolle Vorstellung. Vor allem die endlosen Diskussionen darüber, warum sie denn nicht wie alle anderen Mädchen einen Bikini trug, schließlich würden die Narben doch kaum auffallen. Kaum auffallen? Waren ihre Eltern blind?
Marie empfand sich als das abstoßendste Geschöpf auf Gottes Erden. Manchmal schlich sie sich zu Hause ins elterliche Schlafzimmer, dort hatte Mama einen großen, dreigeteilten Spiegel mit schwenkbaren Flügeln. Sie stellte sich dann nackt so zwischen die Flügel des Spiegels, dass ihr Spiegelbild die Illusion erzeugte, beide Körperhälften wären identisch und unversehrt.
Bei einem ihrer Streifzüge durch das griechische Hinterland entdeckte Marie zwischen ausgedehnten Olivenhainen auf einem Hügel einen einsamen, verlassenen Rohbau, der weiß gekalkt in der Sonne schimmerte. Aus den unverputzten Betonmauern ragten verrostete Stahlstangen, die sich der flimmernden Mittagssonne entgegenreckten wie verdorrte Zweige eines toten Baumes.
Marie näherte sich vorsichtig und auch ein bisschen ängstlich dem verfallenen Haus. Durch ihre dünnen Leinenschuhe spürte sie das Gestrüpp und die vereinzelten Disteln, mit denen der Boden des Hauses bereits bewachsen war. Selbst die Wände waren voller Fugen und Risse, aus denen Gräser wuchsen.
Trotzdem wagte es Marie, die schmale Steintreppe nach oben zu gehen, die in den ersten Stock mündete und einen herrlichen Blick über die Landschaft gab, bis hin zum blau funkelndem Meer am Horizont.
Dort, wo eigentlich Mauern sein sollten, ragten weitere verrostete Stahlstangen heraus und bildeten eine schmale Abgrenzung zwischen dem Boden und dem Nichts.
Hier, so ganz allein, umspielt von einer leichten Brise, die Sonne auf der Haut und den Blick in die Ferne auf das Meer gerichtet, hier fühlte sie plötzlich so etwas wie Vollkommenheit und Frieden. Sie streckte ihre Arme weit von sich, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Während Marie den Augenblick genoss, vernahm sie ganz leise ein Winseln. Sie konzentrierte sich mit all ihren Sinnen auf die Umgebung, aber es war nichts mehr zu hören. Sie war sich sicher, dass das Geräusch aus unmittelbarer Nähe gekommen war, und so ging sie ganz langsam, fast lautlos die Stufen wieder hinab. Da hörte sie das Winseln wieder, ein verzweifelter Wehlaut, der direkt vor ihr aus einer dunklen Nische zu kommen schien. Die Quelle des leidvollen Jammers entpuppte sich als kleiner Hund mit großen braunen Kulleraugen. Vorsichtig beugte sie sich hinab und streckte die Hand langsam nach ihm aus. Kaum berührte sie sein glattes Fell, schon kam ein tiefes Knurren aus seiner Kehle. Marie hatte keine Angst, setzte sich neben den kleinen zitternden Körper und streichelte ihn sanft, so lange, bis das Knurren verstummte. Der zusammengekauerte Hund war noch ein Welpe, hatte struppiges braunes Fell, große Schlappohren, die ihm über die Wangen hingen, und eine lang zulaufende Schnauze, wie die eines Jagdhundes. Jetzt erkannte Marie auch die Ursache für seinen Wimmern: Dort, wo eigentlich sein Schwanz sein sollte, war nur noch ein blutiger Stumpf.
In den folgenden Tagen war Marie nur noch zum Frühstück und Abendessen im Hotel. Tag für Tag brachte sie ihrem kleinen Freund heimlich Futter und verband seinen Stummelschwanz mit einer sauberen Stoffserviette, die sie aus dem Hotel gestohlen hatte. Sie taufte ihn Louie, nach dem Affenkönig aus dem »Dschungelbuch«.
Ihre Eltern sahen ihre Tochter nun zwar noch seltener als zuvor, bemerkten aber, dass das Mädchen wie ausgewechselt wirkte. Ihr stets trostloser Gesichtsausdruck war verflogen, ihre Lebensenergie schien auf magische Weise zurückgekehrt und die harmlosen Bosheiten ihres kleinen Bruders beim Frühstück nahm sie gelassen hin. So ließen sie der Sache ihren Lauf und dem Mädchen ihre Freiheit.
Wenige Tage vor Urlaubsende war der Hund verschwunden. Bisher hatte er sich nur bis zur Tür des Hauses bewegt und dann wieder in die weichen Laken gerollt, die Marie heimlich aus dem Hotel mitgebracht hatte.
Marie suchte verzweifelt das ganze Haus ab, rief seinen Namen vom Dach der Ruine, aber von Louie war weit und breit nichts zu sehen. Sie wartete Stunde um Stunde, sie bemerkte nicht, dass die Sonne unterging. Das Meer, das Hotel, ihre Eltern, alles schien ihr ganz weit weg.
Das Hotel war in Aufruhr. Heerscharen von Hotelbewohnern und Polizisten strömten in die Dunkelheit hinaus und durchsuchten im Schein von Taschenlampen die Gegend.
Ein griechischer Bauernjunge fand Marie bei Tagesanbruch zusammengekauert auf dem Dach des Ruine. In ihren Armen schlief ein kleiner Hund mit verstümmeltem Schwanz und großen Schlappohren.
Levi hatte geschworen, ein besserer Mensch zu werden, seine Familie nie wieder zu enttäuschen und von nun an regelmäßig in die Synagoge zu gehen, wenn nur sein kleines Mädchen wieder auftauchen würde. Er war so überglücklich, Marie wieder in seinen Armen zu halten, dass er ihr unmöglich den Wunsch abschlagen konnte, den kleinen, braunen Hund mit nach Deutschland zu nehmen. Auch wenn Selma und der Bruder Simon ebenso glücklich waren, Marie wieder unversehrt im Kreis der Familie zu wissen, so brachten sie dennoch dutzende Einwände gegen den verstümmelten Hund vor. Aber wenn Levi sich einmal eine Sache in den Kopf gesetzt hatte, war daran nicht mehr zu rütteln.
Für Marie begann eine unbeschwerte Zeit. Mit Louie hatte sie zum ersten Mal einen richtigen Freund, und schon bald reichte er ihr bis zu den Oberschenkeln, konnte ein Dutzend Kunststücke, die Marie ihm beigebracht hatte, und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Nachts hielt er Wache vor ihrem Bett.
6 JAHRE SPÄTER
Im Alter von sechzehn Jahren hatte Marie die Scham über ihre körperlichen Makel fast besiegt und wagte es hin und wieder, in den Abendstunden einen abgelegenen Badesee aufzusuchen. Unter der kurzen Jeans und der weißen Bluse trug sie einen schlichten Bikini. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen. Nur noch vereinzelt waren Familien mit kleinen Kindern zu sehen, in der Ferne spielten ein paar Halbstarke Beachvolleyball und machten dabei mächtig Radau. Während es sich Marie auf einem blauen Badetuch bequem machte, suchte Louie sich einen Platz am Fuße eines Baumes. Entledigt von Jeans und Bluse viertelte sie mit einem Klappmesser einen Apfel und genoss dann, endlich auf dem Rücken liegend, die warme Luft.
Der Volleyball kam ohne Vorwarnung und traf Marie hart am Kopf.
Sie fuhr hoch und riss die Augen auf. Sekunden später verdeckte ein großer, sportlicher Junge die Sonne.
»O Scheiße, tut mir leid … Tut mir echt leid …«
Doch Marie musste ihrem Ärger Luft machen. Zu tief saß ihr der Schreck in den Knochen.
»Du Vollidiot!«, rief sie vorwurfsvoll.
»Hey, das war doch keine Absicht …«, verteidigte sich der Junge mit einem frechen Grinsen im Gesicht.
»Für wie blöd hältst du mich! Du meinst, du hast versehentlich diesen Ball von da drüben bis hierher geschossen und mich rein zufällig damit getroffen?«
Dabei zeigte sie auf den Beachvolleyballplatz.
Es war offensichtlich, dass ihr der Idiot mit den Stoppelhaaren den Ball absichtlich und aus nächster Nähe auf den Kopf geworfen hatte, doch was eigentlich eine blöde Anmache werden sollte, wurde zur Tragödie, als der Junge Maries vernarbten Oberkörper erblickte.
»Zufällig? Nein, wie kommst du darauf? Wir wollen bloß keine Freaks wie dich hier auf unserer Wiese haben. Verstehst du?«
Marie war unfähig etwas zu erwidern. Sie