Turmschatten. Peter Grandl

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Turmschatten - Peter Grandl

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      Viele hatten kaum etwas an, manche waren trotz der Minustemperaturen barfuß. Mütter trugen ihre Kleinsten im Arm und trotzten der Erschöpfung. Schritt für Schritt näherten sie sich dem Turm, der sich vor ihnen aufrichtete wie eine verheißungsvolle Festung aus einer germanischen Sage, während um sie herum die Welt im donnernden Bombenhagel versank.

      Danner brach trotz der Kälte der Schweiß aus. Nur etwa die Hälfte des herannahenden Pöbels hatte eine Zutrittsberechtigung. Er erinnerte sich seiner Aufgabe, für Ordnung zu sorgen. Sein direkter Vorgesetzter in der Parteizentrale hatte ihm immer wieder eingebläut, dass Chaos der Anfang vom Untergang wäre. Nur durch Ordnung bis in die letzte Volkszelle könnte der Endsieg gewährleistet werden. Es lag an ihm, diesem Chaos ein Ende zu bereiten, aber wie sollte er das anstellen? In seiner Waffe, die er nun entsicherte, befanden sich gerade einmal sechs Kugeln. Sechs Kugeln, um hunderte von Menschen aufzuhalten. Als die ersten Schutzsuchenden den Hügel langsam erklommen, feuerte Danner einen Schuss in die Luft ab. Der Lärm der Bomber über ihnen und die Explosionen, die die brennende Stadt erneut erschütterten, übertönten jedes andere Geräusch, auch den verzweifelten Schuss aus der Pistole.

      Danner ließ die Waffe fallen und wandte sich der Stahltür des Turms zu. Zitternd steckte er den klobigen ersten Schlüssel ins Schloss und entriegelte es klackend. Dann griff er zum zweiten Schlüssel, während er hinter sich den Atem der Meute spürte. Noch hielt sie respektvoll Abstand und wartete darauf, dass er die breiten Flügeltüren öffnete. Erneut hörte er ein Klacken. Doch Sekunden später fuhr in zweihundert Metern Entfernung eine Bombe in den gefrorenen Boden und explodierte mit ohrenbetäubendem Krach in einem gleißenden Licht. Die Druckwelle warf die Menschen um wie Streichhölzer. Splitter pfiffen durch die Luft, zerfetzten Arme, Beine und Gesichter. Inmitten der Schreie und des Leids war Danner im Schatten des Turms wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, doch er war benommen und taumelte. In seinen Ohren schrillte ein hoher Pfeifton, der ihn für jedes andere Geräusch taub machte.

      Das Letzte, was er gehört hatte, war das Klacken des zweiten Schlosses gewesen. Nur langsam drang die Erinnerung an das Klacken wieder in sein Bewusstsein. Aber dieses Klacken weckte seinen Überlebensinstinkt, und schließlich beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Der Turm würde ihn schützen.

      Mit letzter Kraft zog er an einer der schweren Flügeltüren, doch sie öffnete sich nur einen kleinen Spalt. Er ahnte, dass ein lebloser Körper, der in der Dunkelheit nur schwer auszumachen war, das Öffnen des Tores verhinderte, aber er hatte weder den Mut noch die Zeit, sich der Person anzunehmen, die offensichtlich gegen das Tor geschleudert worden war. Danner bot seine letzten Kräfte auf, um den Spalt zumindest so weit zu vergrößern, dass er seinen wulstigen Leib hindurchzwängen konnte. Kaum war er im Inneren des Turms in Sicherheit, zog er das Tor wieder zu und verriegelte es mit zitternden Händen.

      Verzweifelte Menschen trommelten gegen den kalten Stahl. Auch wenn Danner sie nicht hören konnte, weil das Pfeifen der Explosion noch in seinem Kopf nachhallte, konnte er sie dennoch spüren, als er mit dem Rücken zum Tor langsam zu Boden glitt.

      Er schloss die Augen und presste die Hände auf seine Ohren.

      Was sollte er nur tun? Sollte er wirklich sein eigenes Leben gefährden – oder sollte er das Chaos und das Leid einfach aussperren? Sollte er sich blind und taub stellen?

      Es waren zwei weitere Bomben der Royal Air Force, die ihm die Entscheidung abnahmen. Sie mussten in unmittelbarer Nähe explodiert sein. Der Turm wurde so stark erschüttert, dass der Putz von der Decke bröckelte und auf Danner herabregnete. Nun erlosch selbst die gelbliche Notbeleuchtung im Turm. Für einen kurzen Augenblick war Danner bereit, alles zu bereuen, was er den Menschen im Dorf angetan hatte. Er gelobte, von nun an ein besserer Mensch zu sein, doch sein Stoßgebet kam zu spät. Plötzlich war es still. Sehr still. Und auch die trommelnden Fäuste, die er eben noch durch die Stahltüren gespürt hatte, waren für immer verstummt.

      EPHRAIM I

      DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010

      Fünfundsechzig Jahre waren seit der Ermordung seiner Familie vergangen. Fünfundsechzig Jahre, in denen Ephraim Zamir an jedem einzelnen Tag von diesem schmerzlichen Verlust begleitet wurde. Vor allem nachts holten ihn die grauenvollen Erinnerungen ein und zwangen ihn, die schmerzlichsten Momente immer und immer wieder aufs Neue zu durchleben.

      Er hatte die Todesmaschinerie Auschwitz überlebt. Aber die Erinnerung an diese Zeit, an den Tod seiner gesamten Familie und an die grauenvollen Versuche, die man an ihm und seinem Bruder durchgeführt hatte, quälte ihn Tag für Tag. Er fühlte sich schuldig, weil er als Einziger überlebt hatte, und schuldig, weil seine Mutter ihr Leben gelassen hatte, um seines zu schützen.

      Zweimal hatte er nach dem Krieg als junger Mann die Rampe in Auschwitz besucht. Zweimal war er darauf zusammengebrochen und hatte mit den Fäusten auf den Beton gehämmert, auf die Stelle, an der er geglaubt hatte, noch immer das Blut seiner Mutter zu sehen. Fast sein ganzes Leben war er nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt. Es gab eine Zeit, in der allein der Klang der deutschen Sprache die schlimmsten Erinnerungen wachwerden ließ. Selbst Deutsch zu sprechen wagte er nicht, nur um sich nicht vor sich selbst ekeln zu müssen. Die Ironie des Schicksals war, dass ausgerechnet sein »arisches Aussehen« und sein akzentfreies Deutsch seinen Lebensweg bestimmt hatten. All das lag nun weit hinter ihm. Mit zweiundsiebzig Jahren begann ein neuer Lebensabschnitt, ohne Beruf, ohne Verpflichtungen und ohne Familie, aber mit einer neuen Verantwortung.

      Er war zurückgekehrt in die Geburtsstadt seiner Mutter, um dort seine letzten Jahre in Frieden zu verbringen. Das Haus, das einst der Familie seiner Mutter gehört hatte, stand längst nicht mehr – und doch fühlte er sich wohl bei dem Gedanken, dass seine Mutter hier eine unbeschwerte Kindheit und Jugend verlebt hatte, bevor sie seinen Vater kennengelernt und mit ihm in Falkenau eine eigene Familie gegründet hatte.

      Nach all der Zeit suchte er nun endlich den Weg der Vergebung, versuchte nicht mehr, das Unrecht zu verstehen, sondern damit zu leben und zu verzeihen.

      Gemächlich fuhr Ephraim in einem schwarzen Jaguar einen Schotterweg entlang. Der Weg führte einen Hügel hinauf zu einem dunklen Turm, der sich in der Dämmerung vom Horizont abhob. Sein neues Zuhause.

      Der achteckige Turm wirkte wie das Überbleibsel einer mittelalterlichen Festung, war etwa dreißig Meter hoch und trug ein imposantes, spitz zulaufendes Schindeldach mit sechs integrierten Gauben.

      Das Gebäude hatte einst zu einem Dorf am Rande der Stadt gehört. Inzwischen war dieser Ort zu einem von vielen Stadtteilen der stetig wachsenden Metropole geworden. Und doch schien hier die Zeit stehengeblieben zu sein; prächtige Villen oder moderne Reihenhäuser gab es kaum. Das mochte auch am neu erbauten Flughafen liegen, der in unmittelbarer Nähe lag und die Grundstückspreise auf niedrigem Niveau hielt. Tag und Nacht donnerten die Verkehrsflugzeuge über die Einwohner hinweg und nahmen dabei fast die gleiche Route wie einst die englischen Bomberflotten aus dem Norden.

      Doch die Erinnerungen an jene düstere Zeit verblassten, wie auch die Bilder auf den Grabsteinen der Gemeindekirche. Diese und eine Gedenktafel lieferten noch Zeugnis von der Tragödie, die am 8. Januar 1945 durch einen fehlgeleiteten Bombenabwurf hundertsiebenundsechzig Menschen, fast nur Frauen und Kinder, das Leben gekostet hatte.

      Von alledem hatte Ephraim Zamir nichts gewusst, als er das Grundstück mit dem Turm erwarb. Während er das Dachgeschoss des Turms innerhalb eines Jahres aufwendig hatte umbauen lassen, verschwendete er keinen Gedanken an dessen verwilderte Umgebung, wo kniehohes Dornengestrüpp im Kampf mit dem Herbstwind lag. Den Anwohnern aber war dieser Schandfleck unerträglich. Selbst den Turm konnten sie nicht leiden, dessen monströse Erscheinung schon in den Nachmittagsstunden einen breiten Schatten auf die angrenzenden Reihenhäuser der kleinen Siedlung warf. Seit man dieses hässliche

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