Turmschatten. Peter Grandl
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Den »Tanz der Finger«, wie Esther es gerne nannte, erlernte Ephraim mit mäßigem Erfolg, aber ungebrochenem Willen seit einigen Monaten. Ein Scheitern kam nicht infrage, denn wie so oft in seinem Leben würde er am Ende triumphieren. Doch im Augenblick fiel es ihm leichter, ihre gutturalen Laute zu vervollständigen, als ihre Zeichen richtig zu deuten.
»Es ist nicht einfach, Esther, du musst die Gemeinde verstehen. Sie sind nur vorsichtig und vielleicht auch zu stolz, um so viel Geld als Spende anzunehmen.«
Esthers Augen verrieten Unmut. »Sdoolz is die Masge de eigenen Fehlä.«
Ephraim war immer wieder überrascht, wie viel Entschlossenheit dieses zierliche Mädchen besaß. In dieser Hinsicht war sie ihm sehr ähnlich.
»Esther, es reicht nicht, aus dem Talmud zu zitieren, um die Ältesten von meinen ehrlichen Absichten zu überzeugen. Ich bin mir ganz sicher, früher oder später werden sie meine Spende akzeptieren und der Bau der Synagoge wird fortgesetzt. Rabbi Moshe und die Stadträtin Seligmann sind auf meiner Seite.«
Ephraim legte ihr eine Hand väterlich auf die Schulter und schob die andere vorsichtig unter ihr Kinn, um ihr Gesicht anzuheben, bis er ihr tief in die Augen schauen konnte. Dabei zeigte er zum ersten Mal ein ehrliches Lächeln, eines, aus dem Esther Zuversicht und Hoffnung schöpfte.
»Esther, du wirst sehen. Der Bau der Synagoge wird in wenigen Wochen fortgesetzt. Da bin ich mir sicher.«
Er brachte es nicht übers Herz, Esther die komplizierte Wahrheit zu beichten, die zur Spaltung der jüdischen Gemeinde und am Ende zum Finanzierungsstopp geführt hatte. Geld allein konnte die Streithähne der Gemeinde nicht wieder zusammenbringen, aber Rabbi Moshe und Stadträtin Seligmann traute er durchaus zu, die Probleme gemeinsam zu lösen.
»Ephaaim, du bis ein guder Mensch!«
Der unerwartete Zuspruch sollte Ephraim in seinem Vorhaben bestärken und Zuversicht geben, doch Esther erreichte damit das Gegenteil.
Ephraim zog seine Hände zurück. Sein Blick war nun wieder kalt wie zuvor. Das Kompliment hatte eine Tür zu seinen dunkelsten Abgründen aufgestoßen. Denn anders als Esther besaß er nicht die Fähigkeit, einen dichten Nebel über seine Vergangenheit zu legen. Seine Geheimnisse verbargen sich hinter hunderten von Türen, und kaum hatte er eine verschlossen, öffnete sich eine andere wie von selbst und peinigte seine Seele aufs Neue.
Ephraims Stimme klang schroff und zurechtweisend.
»Nur weil ich Geld spende, macht mich das noch lange nicht zu einem guten Menschen, Esther.«
Wortlos wandte er sich ab, wohl wissend, dass Esther ihm wegen ihrer Behinderung nichts entgegnen konnte, und zog sich ein Stockwerk tiefer in seinen Privatbereich zurück.
Esther sah ihm nach, wie er die Wendeltreppe hinunterging und verschwand. Morgen würden sie zum vierten Mal gemeinsam Jom Kippur feiern und noch immer war ihr dieser gütige Mensch so fremd wie kaum ein anderer.
KARL I
SONNTAG, 23. AUGUST 1992
Die Vorhänge im zweiten Stock des Altbaus waren zugezogen, damit die Bewohner am Sonntagmorgen nicht allzu früh durch die Sonne geweckt wurden. Das Mehrfamilienhaus lag in Anklam, östlich vom Zentrum im Stadtteil Schanzenberg, dort, wo es keine Plattenbauten gab. Trotz aller Abwanderungsprobleme siedelte sich hier nach dem Fall der Mauer der wohlhabende Mittelstand an. Karl Riegers Vater hatte nach der Wende den richtigen Riecher gehabt und einen Telefonladen im Ort eröffnet. Anfangs hielten ihn seine Bekannten und Freunde für verrückt, doch mittlerweile boomte der Laden. Anfang des Jahres konnten sie sich endlich eine bessere Wohnung leisten und die verhasste Plattenbausiedlung verlassen.
Es würde wieder ein heißer Sommertag werden. Da Karls Zimmer nach Osten gerichtet war, bekam er schon in aller Frühe die Kraft der Sonne zu spüren, die sich auch durch die dünnen Vorhänge seiner Fenster kaum abhalten ließ.
Karl wälzte sich unruhig im Bett und schlug schließlich die Augen auf. Verdammte Hitze!
Es war Sonntag, sein letzter freier Tag. Fast sechs Wochen Ferien lagen hinter ihm. Sechs Wochen Langeweile und Einöde in diesem grauenvollen Kaff am Arsch der Welt.
Karl setzte sich verschlafen auf die Bettkante und fuhr sich mit beiden Händen über die kurz rasierten Haarstoppel, rieb sich das pickelige Kinn, auf dem ein erster heller Bartflaum wuchs. Die hohen Wangenknochen und dunklen Augen verliehen seinem Äußeren eine bedrohliche Aura. Er trug ein weißes Unterhemd, unter dem sich ein sehniger Körper abzeichnete, der dem regelmäßigen Karatetraining geschuldet war. In ein paar Wochen würde er die Prüfung zum Erhalt des braunen Gürtels ablegen – ungewöhnlich für einen Jungen, der gerade sechzehn geworden war.
Karls Blick streifte seinen Schulranzen mit Camouflage-Muster. Morgen würde die Schule wieder losgehen. Er hatte kein Problem damit, im Gegenteil, er war der Beste seiner Klasse am Lilienthal-Gymnasium und wusste, dass ein guter Abschluss seine Fahrkarte in eine bessere Welt war.
Ach, Scheiße. Eine bessere Welt? Eine Welt voll mit Schwulen, Asylanten und Juden.
Er griff nach der Schachtel Zigaretten, die er auf seinem Nachttisch deponiert hatte, dann ging er zum Fenster und öffnete es. Die Sonne blendete ihn, doch er genoss die warmen Strahlen und zündete sich eine Zigarette an. Er schloss die Augen. Ein tiefer Zug füllt seine Lungen, bis schließlich weißer Rauch langsam aus seiner Nase stieg.
Er musste an seinen Opa Alois denken, der immer nach Zigaretten gerochen hatte. Ein tapferer, alter Kriegsveteran, der viel zu früh gestorben war. Es waren seine Soldatengeschichten, die ihm schon als kleiner Junge mehr Freude bereitet hatten als alles andere auf der Welt.
Er erinnerte sich gut an die Besuche bei Oma und Opa in Stralsund. Das war jedes Mal eine zeitraubende Reise mit dem Zug gewesen. Einen Trabbi konnten sich seine Eltern nicht leisten. Belohnt wurde der kleine Karl bei der Ankunft immer mit Erdbeeren aus Omas Garten und mit Opas Kriegsgeschichten.
Eine sehr steile und enge Treppe führte hinauf in Opas kleines Reich. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals wieder solch eine abenteuerliche Treppe gesehen zu haben. Seine Mutter hatte immer furchtbare Angst um den kleinen Karl gehabt, wenn er mit seinen kurzen Beinchen die Treppe emporstieg. Versuchte sie zu helfen, kam sofort von oben die mahnende Stimme des Vaters. »Der Bengel wird nie ein Mann, wenn du ihn nicht mal allein die Treppe hochsteigen lässt!«
»Und wenn er stürzt?«, entgegnete sie besorgt.
»Na und? Ein paar Schrammen haben noch niemanden umgebracht!«
Opa war selbst mit siebzig Jahren noch ein rüstiger Mann mit borstigem, silbergrauem Haar gewesen, im Nacken und über den Ohren militärisch korrekt abrasiert. An der linken Schläfe hatte eine breite Narbe die Haare wie ein Seitenscheitel geteilt. Wegen seiner hängenden Wangen und großen Tränensäcke hatte er Karl an die traurig dreinblickende Dogge seines Onkels erinnert. Kaum vorstellbar, dass dieser liebevolle Opa, der mit ihm gespielt und Panzermodelle zusammengebaut hatte, einst der kernige Oberfeldwebel gewesen war, den er aus Omas vergilbten Fotoalben kannte. Das Bild, auf dem er in Ausgehuniform, umringt von seiner Frau, seinem erwachsenen Sohn und seinen zwei kleinen Töchtern, stolz sein »Eisernes Kreuz erster Klasse« präsentierte, gefiel dem kleinen Karl ganz besonders. Auf seinem Schoß sitzend, eng an seinen Brustkorb geschmiegt, folgte er gebannt Opas Geschichten, in denen er Partisanenstellungen in die Luft jagte