Turmschatten. Peter Grandl

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Turmschatten - Peter Grandl

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Karl zwölf Jahre alt und zu schwer für Opas Schoß geworden war, fuhr dieser eines Tages mit ihm an die polnische Grenze und nahm ihn mit auf einen winterlichen Spaziergang. Opa war nicht der Typ, der gerne spazieren ging. Gewöhnlich saß er in seinem Zimmer und ging nur selten aus dem Haus. Aber an diesem kalten Wintermorgen wurde aus dem liebevollen Opa ein Mann mit einem Namen, ein Mann mit einer Botschaft, der seinem Enkel die Tragödie erklärte, in der sich Deutschland, ja sogar die ganze Welt befand. In Karl fand dieser Mann einen willigen Schüler, der alles begierig aufsaugte, was der Mentor von sich gab.

      »Die Juden sind an allem schuld!« Das war der Satz, der sich Karl tief ins Bewusstsein brannte, genauso wie die Geräusche des knirschenden Schnees unter ihren Füßen und Alois’ verbissene Miene.

      Alois erzählte ihm von der Weltverschwörung des »jüdischen Bolschewismus«, der nicht nur die Weltherrschaft anstrebte, sondern auch verantwortlich war für den Ersten und sogar den Zweiten Weltkrieg. Er klärte ihn darüber auf, dass Hitler gar nicht anders konnte, als Russland anzugreifen, um einem Angriff zuvorzukommen. Alois erzählte ihm vom Holocaust. Davon, dass diese Gräueltaten nie geschehen seien, dass der Holocaust eine Erfindung der Siegermächte war, um die Deutschen kleinzuhalten und sie gnadenlos ausbeuten zu können. Und er erzählte ihm vom Schicksal seiner Familie, die ursprünglich aus Ostpreußen stammte, wohlhabend war und ihres ganzen Besitzes beraubt wurde, als sie vor den russischen Eroberern flüchten musste.

      Sie waren eine Stunde durch kniehohen Schnee gestapft und Alois hatte nicht eine Sekunde lang aufgehört zu reden, während Karl sich anstrengen musste, mit ihm Schritt zu halten. Schließlich waren sie an einem Fluss angekommen, und Alois streckte den Arm Richtung Osten aus.

      »Das ist die Oder, Karl. Und dahinter liegt heute Polen. Früher einmal gehörte das alles zu Deutschland. Vor dem Krieg, vor dem Zweiten Weltkrieg.«

      Dann schwieg er. Sein Blick hing fest am Horizont, fast so, als könnte er die Vergangenheit vor seinem inneren Auge wieder zum Leben erwecken. Ihr Atem bildete in der Kälte neblige Wolken.

      Alois holte ein Stofftaschentuch aus seiner Manteltasche hervor, schnäuzte sich laut und fuhr schließlich mit ruhiger, tiefer Stimme fort: »Unsere Heimat, der Ort, an dem ich und deine Großmutter geboren wurden, liegt heute in Polen, weil die Russen nach dem Krieg den Polen ein riesiges Gebiet abgenommen und ihnen dafür unser Land als Entschädigung gegeben haben.«

      Minutiös erklärte er Karl, dass nicht nur die Teilung Deutschlands großes Unrecht war, sondern auch die Abtretung dieser Gebiete, die, völkerrechtlich gesehen, niemals hätte passieren dürfen.

      »Krieg hin oder her«, seine Hand erhob sich wieder gen Osten, »hier hat die Welt tatenlos zugesehen, wie der Iwan tausende von Deutschen ermordet und vertrieben hat, um unser Land zu stehlen.«

      Karls Hände begannen zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es wegen der Kälte oder der Wut über diese Ungerechtigkeit war.

      Der Großvater packte ihn schließlich an den Schultern, dann kniete er sich vor ihn in den eisigen Schnee.

      »Wir dürfen dieses Unrecht niemals vergessen, Karl.«

      Seine Augen hatten jegliche großväterliche Wärme verloren.

      »Du darfst das niemals vergessen! Deine Generation muss zu Ende bringen, was wir nicht geschafft haben. Verstehst du das?«

      Karl nickte, auch wenn er nicht wirklich verstand, was Alois damit gemeint hatte.

      Auf dem Rückweg durch den Schnee sprach Alois kein einziges Wort. Karl hatte so viele Fragen und konnte doch keine einzige aussprechen. Die Menge der neuen, schockierenden Erkenntnisse schwirrte in seinem Kopf umher wie ein wild gewordener Schwarm Bienen. Nur ein Satz zeichnete sich immer wieder klar vor seinem geistigen Auge ab:

      »Die Juden sind an allem schuld!«

      Es war das letzte Mal, dass Karl seinen Opa sah. Nur wenige Monate später starb er, noch bevor die Mauer fiel.

      Karl zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann schnippte er den Stummel weit von sich, der in hohem Bogen auf die Straße flog. Langsam trottete er in Unterhose und Unterhemd in die Küche. Normalerweise war seine Mutter um diese Uhrzeit schon wach und brutzelte für »ihre Jungs« Eier mit Speck, aber der Speck lag unangetastet auf einem Brett neben der kalten Pfanne.

      Dann hörte er den Fernseher aus dem Wohnzimmer – ungewöhnlich um diese Uhrzeit, da seine Eltern den Fernseher eigentlich nur am Abend einschalteten. Neugierig betrat er das Wohnzimmer. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass nicht nur seine Mutter, sondern auch sein Vater gebannt auf den Fernseher starrte.

      Die Bilder zeigten nächtliche Krawalle, Demonstranten warfen Steine auf Polizisten, die offensichtlich versuchten, ein Asylantenheim vor der Menge zu schützen. Es war von zweitausend Bürgern die Rede, die am vergangenen Abend gegen das Asylantenheim in Rostock-Lichtenhagen demonstriert hatten.

      Karls Augen funkelten vor Erregung.

      »Deutschland erwacht!«, rief er aus und erntete dafür Applaus von seinem Vater. »Ich muss Kai anrufen! Es geht los, es geht endlich los …«

      Mit diesen Worten wandte er sich ab und stürzte zurück in sein Zimmer, um sich anzuziehen.

      Seit Wochen war klar gewesen, dass es in Rostock irgendwann krachen würde. Das Auffanglager für Asylbewerber in Lichtenhagen war vollkommen überfüllt. Es lag in einem elfgeschossigen Plattenbau und belegte dort einen von zwölf Hauseingängen. Über dreihundert Neuankömmlinge kampierten in Decken und Plastiksäcken gehüllt auf den angrenzenden Grünanlagen und mussten ihre Notdurft an der Mauer des Plattenbaus verrichten. Die Stadt weigerte sich, mobile Toiletten aufzubauen, um die Situation nicht zu »legalisieren«. Der Zorn der Anwohner wurde von Tag zu Tag größer. Es hatte sich nur um eine Frage der Zeit gehandelt, bis dieses Pulverfass explodierte. Sogar die Zeitungen hatten über die Drohungen der rechten Szene geschrieben, aber die Behörden hatten weiterhin tatenlos zugesehen.

      Karl und sein bester Freund Kai hatten die Entwicklung mit Spannung verfolgt. Ihr Plan war ganz einfach: Sobald die ersten Steine flogen, würden sie sich auf den Weg machen, um endlich den Anschluss zur Szene zu bekommen.

      Gerade als Karl seinen Freund anrufen wollte, läutete das Telefon. Kai war am Apparat.

      »Hast du es gesehen?« Er atmete schnell und seine Stimme vibrierte vor Aufregung.

      »Und wie ich es gesehen habe. Ist das geil!«

      »Wie schnell kannst du fertig sein?«

      »Ich bin fertig!« Karl blickte auf seine Unterhose. »Ich bin fertig, wenn du da bist. Hast du das Auto?«

      »Alles organisiert. Nach Rostock sind’s eineinhalb Stunden. Aber was machen wir, wenn die Sache länger dauert? Morgen ist Schule.«

      Karl grinste. »Scheiß auf die Schule!«

      18 JAHRE SPÄTER – DONNERSTAG, 14. OKTOBER 2010

      Die Wohnung in der Großstadt befand sich in einem der schmucklosen Häuser, die man nach dem Krieg dank »Großsiedlungsbau« aus dem Boden gestampft hatte, und die in ihrer Uniformität kaum zu überbieten waren. Kleine Fenster in niedrigen Räumen hinter ebenso kleinen Balkonen gaben den Bewohnern der Sozialwohnungen, die man in den Sechzigern und Siebzigern in Trabantenstädten am Rande der Ballungszentren zusammengepfercht hatte, unmissverständlich zu verstehen, dass sie Menschen zweiter Klasse waren.

      Der

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