Im Land des Feindes. Marthe Cohn

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Im Land des Feindes - Marthe Cohn

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uns gewarnt hatte, und schickten ihn wieder nach Hause.

      Abends saßen wir um unseren großen Esstisch aus poliertem Mahagoni und aßen Kirschen, die ein Ladenbesitzer meiner Mutter für uns Kinder mitgegeben hatte, obwohl er dafür ins Gefängnis hätte wandern können. Vor dem offenen Fenster zischten die Schwalben vorbei, während in der Wohnung Vaters unzählige antike Uhren tickten, bevor sie schließlich acht Uhr schlugen.

      Wenige Minuten später hämmerte es an die Tür, begleitet von stürmischem Klingeln. Kurz darauf kamen Hipp und seine Männer hereingestürmt. Jacquie war zu diesem Zeitpunkt sieben und lebte seit vier Jahren bei uns. Inzwischen war er an die abendlichen Besuche gewöhnt, die so viele unglückliche Kindheitserinnerungen zurückbrachten. Unser größtes Problem war sein vorlautes Mundwerk. Es war meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er in Gegenwart der SS-Männer kein Deutsch sprach und damit verriet, dass wir alles verstanden, was unsere unliebsamen Besucher untereinander sagten.

      Ich legte ihm die Hände auf die Schultern und flüsterte ihm zu, dass er still sein solle. Jacquie gehorchte, aber mit einem Mund voller Kirschen blieb ihm auch nichts anderes übrig. Bevor ich ihn davon abhalten konnte, spuckte er die Kerne mit erstaunlicher Treffsicherheit auf die Deutschen. Nachdem ein Kirschkern direkt vor Hipp auf dem Boden gelandet war, schlug ich Jacquie fest auf die Hand.

      »Non, Jacquie!«, schimpfte ich. Ich wagte nicht, mir auszumalen, was passiert wäre, wenn der Kirschkern sein Ziel getroffen und einen dunkelroten Fleck auf Hipps makelloser Uniformjacke hinterlassen hätte. »So etwas macht man nicht. Auch im Krieg muss man immer höflich sein.«

      Wir saßen schweigend da, während wir darauf warteten, dass uns Hipp wie üblich auf seiner Liste abhakte. Pavel war verständlicherweise vorsichtig im Umgang mit Deutschen und versteckte sich immer hinter der Standuhr, wenn sie kamen. Er schrumpfte sichtlich, als Hipps Blick auf ihn fiel.

      Hipp stolzierte auf dem eleganten Esszimmerteppich auf und ab, während er jeden Einzelnen von uns fixierte. Seine schwarzen kniehohen Stiefel glänzten so sehr, dass ich mich darin hätte spiegeln können. Er hatte ein arrogantes Grinsen aufgesetzt, das mir Angst machte.

      »Wer von euch ist Stéphanie?«, bellte er plötzlich.

      Bevor einer von uns irgendetwas sagen konnte, erhob sich Stéphanie schwankend. Sie litt an einer chronischen Nierenentzündung und war ziemlich geschwächt.

      »Das bin ich«, sagte sie leise.

      »Sie sind verhaftet«, schnauzte Hipp, packte sie am Arm und führte sie zur Tür. Als er sie losließ, konnte man deutlich die Abdrücke seiner Wurstfinger erkennen. Die beiden bewaffneten Wachen mit ihren stahlgrau glänzenden Gewehren nahmen sie in die Mitte. Wir sahen uns an, aber keiner von uns wagte es, sich einzumischen. Stéphanie gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bereit war, mitzugehen, und lächelte uns aufmunternd zu. Ihr letzter Blick galt unserer kleinen blonden Mutter, die kerzengerade in einer Ecke des Raums stand, die Finger so fest ineinander verhakt, dass ihre Knöchel weiß durch die Haut schimmerten.

      Nachdem die SS-Männer abgezogen waren, herrschte absolute Stille. Keiner von uns hatte sich geregt, seit sie das Zimmer betreten hatten. Nachdem meine Mutter die ganze Zeit die Fassung bewahrt hatte, sackte sie jetzt in sich zusammen und ließ sich auf einen Stuhl sinken.

      »Sie kommt nie mehr zurück. Das weiß ich«, klagte sie und schlug sich mit der Faust auf die Brust.

      In unserem Kummer vereint, saßen wir da und dachten an Steph. Ich sah sie vor mir, wie sie lachend den Kopf in den Nacken warf und ihr langes Haar über ihren Rücken fiel, während wir im Garten unserer Nachbarn in Metz Äpfel pflückten. Ich dachte an die Nächte, in denen wir zusammen mit Cécile kichernd im Bett gelegen, uns gegenseitig abenteuerliche Geschichten erzählt und über die Jungs getuschelt hatten, für die wir schwärmten. Ich versuchte, meine Mutter zu beruhigen, aber sie war untröstlich. Es war, als wäre in ihr ein Licht erloschen.

      Mein Vater saß aschfahl und verhärmt am Esstisch, die Lippen fest aufeinandergepresst, den Kopf in die Hände gestützt. Fast ein Jahr lang hatten wir kein Wort miteinander gewechselt, weil ich seine Erziehungsmethoden missbilligte. Ich war wild entschlossen, dafür zu sorgen, dass unser kleiner Cousin, der schon so viel durchgemacht hatte, von seinen Wutausbrüchen verschont blieb. Das hatte ich meinem Vater bei unserem letzten Gespräch deutlich gesagt. Inzwischen war unsere Beziehung auf dem Tiefpunkt angelangt. Doch in den furchtbaren Minuten nach Stéphanies Verhaftung hatte ich das starke Bedürfnis, zu ihm zu gehen und ihn zu trösten. Aber mein Stolz hielt mich zurück.

      Eineinhalb Stunden später hörten wir unten auf der Straße ein Auto vorfahren. Da nur die Deutschen Fahrzeuge besaßen, dachten wir zunächst, dass es ein SS-Fahrer wäre, der Stéphanie zurückbrachte. Dann hörten wir auf dem Bürgersteig Schritte und kurz darauf hämmerte jemand mit einem Gewehr an die Tür. Es war Hipp.

      »Ihre Tochter weigert sich, mit uns zusammenzuarbeiten. Sie ist unverschämt und aufsässig«, schrie er meinen Vater an und packte ihn am Arm. »Ich verhafte Sie ebenfalls. Sie kommen mit.«

      Wieder standen wir schweigend und nach außen hin gelassen da, während mein Vater seinen Hut nahm und unsanft zur Tür befördert wurde. Da hielt ich es nicht länger aus. Ich rannte zu ihm und schlang ihm die Arme um den Hals.

      »Papa, ich hab dich lieb«, sagte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um seinen Bart zu küssen. Zu meiner großen Freude drückte er mich fest an sich. Er warf meiner Mutter einen liebevollen Blick zu und ging dann mit hoch erhobenem Kopf aus dem Zimmer.

      Ich fürchtete mich vor der Reaktion meiner Mutter und wollte sie auch Rosy und Hélène ersparen.

      »Kommt, Mädchen«, sagte ich betont munter zu meinen jüngeren Schwestern, »machen wir uns fertig fürs Bett. Ihr wisst ja, wie böse Papa sein wird, wenn er nach Hause kommt und ihr immer noch nicht ausgezogen seid. Wir sollten Maman und Großmutter jetzt allein lassen.« Unsere alte Großmutter saß da wie ein Häufchen Elend.

      Während der nächsten Stunden klopfte es immer wieder an unsere Wohnungstür. Es war nicht das ungeduldige Hämmern der Gestapo, sondern das zögernde Klopfen von Freunden und Nachbarn, die alle die Ausgangssperre missachteten, um nach uns zu sehen. Es hatte sich herumgesprochen, dass wir unerwünschten Besuch gehabt hatten und dass jemand verhaftet worden war. Als ich die Tür öffnete, fiel mir Jeanine Rieckert, meine Mitschülerin aus der Schwesternschule, in die Arme.

      »O Marthe, ich bin ja so froh, dich zu sehen!«, rief sie mit leuchtenden Augen. »Ich habe gehört, dass die Gestapo hier war, und hatte schreckliche Angst, dass sie dich mitgenommen hätten.« Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

      »Mir geht’s gut, Jeanine«, sagte ich und bat sie, hereinzukommen. »Aber Stéphanie haben sie mitgenommen und Papa. Ich wäre gern an ihrer Stelle mitgegangen.«

      Diese netten Menschen trösteten uns und wünschten uns viel Kraft, bevor sie wieder nach Hause eilten, um nicht von den deutschen Patrouillen erwischt zu werden. Meine Mutter nahm ihr Mitgefühl mit ausdruckslosem Gesicht entgegen. Apathisch saß sie da und starrte auf die Tür. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass die Deutschen jeden Moment zurückkommen und uns alle mitnehmen würden.

      Als kurz vor Mitternacht unten vor unserem Haus ein Auto vorfuhr, wurde mir ganz elend zumute. Dann hörten wir Schritte und Rosy und Hélène rannten im Nachthemd zu meiner Mutter. Jacquie klammerte sich ängstlich an seine geliebte Hélène. Aber es war nur unser Vater, der mit bleichem Gesicht hereinkam. Er sah aus, als kehrte er gerade von einer langen, kräftezehrenden Reise zurück.

      »Wo ist Stéphanie?«, fragte meine Mutter bestürzt.

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