Im Land des Feindes. Marthe Cohn
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»Ich … ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Oh, ich glaube schon«, erwiderte ich und blickte ihm fest in die Augen. »Wie stehen Sie dazu, dass Ihr Oberkommando eine Anordnung erlässt, die Menschen ihr Recht auf Arbeit verweigert und sie daran hindert, ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Sie sind doch Pfarrer. Wie können Sie einen derart unmenschlichen Umgang mit jüdischen Bürgern vor Ihrem Gewissen verantworten? Vor ein paar Tagen haben Sie noch große Stücke auf mich gehalten. Das scheint sich grundlegend geändert zu haben. Denn wie können Sie es sonst zulassen, dass man mich wie eine Aussätzige behandelt, allein wegen meiner jüdischen Herkunft, für die ich nicht das Geringste kann?«
Ich hatte von einem seiner Untergebenen erfahren, dass man ihn bald von seinem Posten abziehen und an die Ostfront versetzen würde. Bevor ich mich zum Gehen wandte, sagte ich: »Ich hoffe, dass Sie in Russland ganz erbärmlich unter Hunger und Kälte leiden, Herr Hauptmann. Dann werden Sie sich vielleicht daran erinnern, was Sie uns Juden angetan haben.«
Als ich hinausgehen wollte, trat er auf mich zu und hielt mich am Arm fest. »Hören Sie, mein Fräulein«, sagte er mit trauriger Miene, »als Mensch kann ich Ihnen nur sagen, dass mir das alles wirklich sehr leidtut, aber als deutscher Offizier bin ich meinem Vaterland zu Loyalität verpflichtet.« Dann streckte er mir vorsichtig die Hand entgegen. »Leben Sie wohl«, sagte er leise.
Ich dachte an seinen angewiderten Blick, als ich ihm eröffnet hatte, dass ich Jüdin bin. Und ich war immer noch empört darüber, dass man mich mit Waffengewalt aus meinem Büro vertrieben und um meine Arbeit gebracht hatte. Deshalb wies ich seine ausgestreckte Hand zurück. Ich drehte mich auf dem Absatz um, ging hinaus und schlug die Tür hinter mir zu. Es war August 1941.
Ich glaube, insgeheim war Jacques froh, dass ich meine Arbeit verloren hatte. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihm mein täglicher Kontakt mit den Deutschen missfiel.
Aber ich war es bald leid, den ganzen Tag zu Hause bei meinen Eltern herumzusitzen. »Ich hab nicht das Geringste zu tun«, beklagte ich mich bei Jacques. »Keine Arbeit, kein Geld, keine Möglichkeit, meine Familie zu unterstützen. Da könnte ich genauso gut eine Ausbildung machen.«
»Das ist doch eine prima Idee!«, sagte er. »An was hattest du denn gedacht?«
»Ich weiß nicht recht. Krankenpflege vielleicht.«
Jacques’ Miene hellte sich auf. »Aber natürlich! Das wäre doch perfekt! Wenn du Krankenschwester bist und ich Arzt, können wir zusammenarbeiten. Das ist die genialste Idee, die du je hattest, Marthe!« Er beugte sich vor und küsste mich zärtlich auf die Nase.
Von da an lag mir Jacques mit der Schwesternausbildung ständig in den Ohren. Er gab sich genauso wenig mit einem Nein zufrieden wie damals bei unserem Picknick im Wald, als er mir einen Antrag gemacht hatte. Ich hatte Bedenken, weil ich nicht wusste, wovon ich die Schulgebühren bezahlen sollte, jetzt, da ich ja kein eigenes Einkommen mehr hatte. Schließlich schrieb ich Fred einen Brief und fragte ihn um Rat. Seine Antwort lautete: »Mach ruhig die Ausbildung. Ich kümmere mich ums Finanzielle.«
Als ich meine Mutter in meine Plänen einweihte, traute sie ihren Ohren nicht. Ich hatte nie mit Krankheit oder Tod umgehen können. Als ich drei Jahre alt war, starb Mamans jüngerer Bruder Jacques an den Komplikationen einer Blinddarmoperation. Ich erinnerte mich genau an den jungen Mann, der mich immer auf seinen Knien hatte reiten lassen. Auf seiner Beerdigung bekam ich einen hysterischen Anfall, weil ich glaubte, dass sich sein Leichnam in dem großen, mit einem schwarzen Tuch verhüllten Karton für die Besuchskarten befand. Seitdem graute mir vor dem Tod. Was Krankheiten anging, war es auch nicht viel besser. Als Hélène am Knie operiert wurde, rannte ich jedes Mal aus dem Zimmer, wenn die Nonne zum Verbandwechseln hereinkam.
Trotz der Bedenken meiner Mutter meldete ich mich am 6. Oktober 1941 in der Schwesternschule des Roten Kreuzes an. Das Institut, das Mademoiselle Margnat leitete, war der Universitätsklinik angegliedert, die von den Ordensschwestern Les Sœurs de la Sagesse geführt wurde. An meinem ersten Unterrichtstag sollten wir über einen Namen für unseren Jahrgang abstimmen. Bis auf mich und meine Mitschülerin Jeanine Rieckert waren alle für Marschall Pétain. Als wir gegen diese Entscheidung protestierten, waren die anderen Mädchen fassungslos. »Was habt ihr denn gegen den Namen?«, fragte eine. »Pétain ist der Retter Frankreichs.«
»Von wegen!«, rief ich. »Wir sollten uns lieber für General de Gaulle entscheiden. Er ist derjenige, der Frankreich rettet, ihr werdet schon sehen.«
Mademoiselle Margnat rief mich bald darauf in ihr Büro. Sie war eine warmherzige, couragierte Frau, die wusste, dass ich Jüdin war. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Mademoiselle Hoffnung«, sagte sie. »Wir haben hier keine Vorurteile. Die Nationalität oder Religionszugehörigkeit unserer Patienten spielt für uns keine Rolle und das Gleiche gilt auch für unser Krankenhauspersonal.«
Ich war sehr dankbar für ihre Güte, die sie mehr als einmal unter Beweis stellen sollte. Als sich gegen Ende 1941 das Klima weiter verschärfte, tauchte die Gestapo immer häufiger unangekündigt im Krankenhaus auf, um »unerwünschte Personen«, wie es beschönigend hieß, ausfindig zu machen. Jedes Mal marschierte ein ranghoher Offizier in den Flur, zückte ein Blatt Papier und fragte eine Nonne nach den Juden oder Kommunisten, die auf seiner Liste standen.
»Die Namen sagen mir nichts«, sagte die Nonne dann frostig. »Mich interessiert nur das Wohl meiner Patienten.«
Doch die Gestapo-Männer drängten sich einfach an ihr vorbei und stürmten auf die Krankenstationen, um die Namen auf den Krankenblättern zu kontrollieren und alle, die auf ihrer Liste standen, aus ihren Betten zu zerren. Immer wenn die Deutschen kamen, versteckten mich die Nonnen in einem kleinen Büroraum neben der Kapelle. Sie hätten schon wegen weit geringerer Vergehen verhaftet und erschossen werden können.
Eines Tages rief mich Mademoiselle Margnat erneut in ihr Büro. Ich glaubte, dass die Nazis wieder im Anmarsch wären, aber das war nicht der Grund.
»Wir haben einen neuen Patienten, Marthe«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie sich um ihn kümmern. Sie sind die Einzige, die sich für diese Aufgabe eignet.«
»Selbstverständlich, Madame«, erwiderte ich ohne Zögern. »Was fehlt ihm denn?«
Sie seufzte, musterte mich einen Moment lang nachdenklich und antwortete: »Er ist ein deutscher Soldat.«
»Und? Was fehlt ihm?«, fragte ich noch einmal.
Mein Schützling war ein 1,90 Meter großer Wehrmachtssoldat namens Günther. Er hatte sich bei einem Militärtransport eine schlimme Kopfverletzung zugezogen. Als der Zug, der mit deutschen Panzern beladen war, durch eine niedrige Brücke hindurchgefahren war, hatte er versehentlich den Kopf aus der Dachluke seines Panzers gesteckt. Bei seiner Einlieferung war er halb bewusstlos. Ich sollte mich um ihn kümmern, bis er in die neurologische Abteilung eines deutschen Krankenhauses verlegt werden konnte. Da ich die Einzige war, die Deutsch sprach, hatte man mir diese Aufgabe übertragen.
Günther befand sich in einem bedauernswerten Zustand. Er hatte eine schwere Gehirnerschütterung erlitten und war zeitweise geistig verwirrt. Es kam vor, dass er mitten im Schlaf hochschreckte, aus dem Bett sprang und auf den Flur hinaustappte. Im Krankenhemd, das sein nacktes Hinterteil entblößte, marschierte er bis hinaus auf die Straße. Ich lief ihm dann jedes Mal hinterher, nahm ihn behutsam bei der Hand und führte ihn in sein Zimmer zurück. »Kommen Sie, Günther«, sagte ich dann sanft zu ihm. »Wir können Sie doch nicht so auf der Straße