Etwas Seltenes überhaupt. Gabriele Tergit

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Etwas Seltenes überhaupt - Gabriele Tergit

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2 cm breiter oder höher machen den ganzen Unterschied bei einem Bau. Für Bauherren, die an diesen zwei Zentimetern sparen wollen, kann man nicht bauen. Als ich vor diesem gläsernen Mietshaus stand, wünschte ich, ich könnte es mit Heinz bewundern. Im riesigen gläsernen Treppenhaus der Fahrstuhl, blau und Nickel und oben ein Empfangszimmer nicht von 1750 wie in London, sondern von heute, und daneben das Schlafzimmer mit einem Bett der Pompadour. Ich war über achtzig, sie neunzig, eine große elegante Frau in einem hellblauen Kleid mit dem berühmt schönen Gesicht. Sie wußte von mir. »Rudi« hatte geschrieben und es wurde gedruckt: »Etwas Seltenes ist die Tergit überhaupt …« Sie hatte alle Artikel von ihm gesammelt und in rotes Leder binden lassen und nach Marbach in den Bücherfriedhof, auch Bibliothek genannt, gegeben. »Ach wenn wir doch alles so bekämen«, hatte der Bibliothekar bewundernd gesagt. Wir waren dieselbe Generation. Alles war uns gemeinsam. 1914/15 Schickeles Hans im Schnakenloch. In ganz Deutschland waren alle Theater ausverkauft.

      »Seine Frau war netter und klüger als er.«

      »Sicher. Was für eine zufällige Sache ist der Ruhm. Dieser überschätzte Sternheim. Ich hatte ihn gebunden und dann noch jede Kurzgeschichte einzeln.«

      »Er war damals eine Offenbarung, ein neuer Ton. Der Polizist, der von einer Liebesnacht so entzückt ist, daß er sich ans Klavier setzt und ›Heil dir im Siegeskranz‹ spielt«.

      »Busekow«, sagte ich, »ich glaube, es war an Heinrich Manns 60. Geburtstag, daß Tilly Wedekind mir begeistert erzählte, daß Sternheim ihr Schwiegersohn geworden war.«

      »Sie wissen natürlich den Ausbruch?«

      »Natürlich«, lachte ich, »wie er plötzlich laut gerufen hat: ›Sieht er nicht aus wie ein Adler? Er ist ein Adler!‹«

      »Das alles auf Seeckt, der am Nebentisch saß«, sagte sie. Seeckt war der Chef der Reichswehr.

      »Wurde er nicht gleich in ein Sanatorium gebracht?«

      »Irre.«

      »Eigentlich traurig, aber wir haben doch alle gelacht.«

      »Seeckt als Adler.«

      »Und diese albernen Memoiren«, sagte ich.

      »Mütterchen Olden!« sagte Ilse.

      »Genau das habe ich gemeint«, sagte ich.

      »Unsere Mutter ›Mütterchen Olden‹«, sagte Ilse richtig ärgerlich. »Das ist ganz selten, daß man sich so sofort versteht«, und meinte uns beide.

      Und dann sprachen wir von Tilly Wedekind. Ich sagte: »Sie war mittelgroß mit glatten schwarzen Haaren, ein süßes Gesicht. Sie war ganz unbewußt, ganz einfach, als sie mir von ihrem Schwiegersohn Sternheim vorschwärmte. Aber ich konnte kein Wort sprechen. Ich sah das Wunder. Ich sah sie mit Wedekinds Augen, Lulu, die Naturgewalt, die die Männer zu Schöpfern macht. Daß Wedekind das Wunder an dieser Frau sah und sie zur Weltfigur machte, zum Symbol der ewigen Erneuerung, das allein macht ihn zum Genie. Zart möchte ich sagen, das war das Wesentliche an ihr, das Gegenteil der Hollywood-Sex-Bombe oder der klassischen Schönheiten unserer Väter vor dem ersten Weltkrieg, keine Aphrodite, bescheiden und ein bißchen dümmlich, meinen Sie nicht?«

      »Ach, ich muß Ihnen noch etwas erzählen. Kurz nach dem Krieg gab Pamela Wedekind auf einer winzigen Londoner Bühne einen Abend. Es war natürlich ein ältliches Publikum der früheren deutschen Theaterwelt. In der Pause kam der Regisseur einer berühmten Aufführung des Strindbergschen Traumspiels bei Bernauer auf uns zu.«

      »Traumspiel?« sagte Ilse.

      »Ich weiß nur noch, daß darin einer etwas Grünes wiederzufinden sucht, aber was er findet, ist nicht das Grün. Seitdem sagten Heinz und ich bei jeder Enttäuschung: ›Es ist wieder mal nicht das Grün.‹ Er kam aufgeregt auf Heinz zu: ›Das ist ja Wedekind selber. Sie kann ja ihren Vater nicht mehr selber gehört haben, also vererbt, jeder Ausdruck, jede Gebärde genau wie Frank Wedekind, gespenstisch und wunderbar zugleich, das noch einmal zu erleben.‹ Für uns war es neu, aber in dieser im wesentlichen Alten Herrengesellschaft, aufgeregt von einem Jahrzehnte zurückliegenden Kunsterlebnis. ›Reifenberg‹, sagte der Regisseur, ›passen Sie auf die Hand auf, genau so hat Frank die Hand gehalten.‹«

      »Ich begleite Sie nach unten«, sagte Ilse, als ich mir meinen Mantel vom Pompadourbett nahm.

      »Ich kann doch allein im Fahrstuhl runterfahren«.

      Aber sie kam mit. Wir wußten, es war das erste und letzte Mal. Sie stand am Fahrstuhl. Ich ging zum Taxi. Wäre es in London oder Paris gewesen, hätten wir uns einen Kuss gegeben, aber deutsche Länder haben kein Klima der Zärtlichkeit. Kein Kuss für Haushilfen oder von Lieferanten.

      In den siebziger Jahren nahm ich mir Oldens PEN-Korrespondenz vor, bevor ich sie in ein Archiv gab. 1934 wurde nach dem Anschluss des deutschen Nazi-PEN ein PEN-Zentrum deutschprachiger Autoren im Ausland gegründet. Heinrich Mann wurde Präsident, Olden Sekretär. Ein allererster kleiner Verdacht, daß er die Dinge nicht richtig sah, kam mir, als ich ihm schrieb, als altes Mitglied würde ich gern wieder eintreten, und er antwortete: »Wozu denn? Der PEN ist doch nur dazu da, Geld auszugeben, nicht um was zu verdienen.« Als Hitler 1938 begann, Europa zu besetzen, kamen die Hilferufe der gefährdeten Schriftsteller, Olden, ein Einzelner ohne Büro, ohne Sekretärin, ohne jeden Betrieb der Wohltätigkeit, widmete den Kollegen, weit über seine Kräfte, Geld und Zeit. Er beantwortete Hunderte von Briefen, keiner war zu dumm, kein Kollege zu unsympathisch. Zwei große Engländerinnen, Mrs. Chance und Miss Storm-Jameson verhandelten mit den Behörden und den Garantoren, und der Sekretär des Internationalen PEN, der schon der Sekretär des Gründungspräsidenten John Galsworthy gewesen war, zuerst zögernd, weil er nicht recht wußte, in welche Todesstrudel sein freundlicher Dichterklub da gerissen wurde, rettete Hunderte, organisierte den Exodus. Aber nur den Exodus der Antinazischriftsteller. Noch kam keiner auf die Idee, daß ein ganzes Volk vernichtet werden sollte, die Erwachsenen in Gaskammern, die Kinder in riesigen Feuern lebendig verbrannt.

      Und die Briefe handelten nicht nur von Rettung. War es ergreifend oder ahnungslos, daß Heinrich Mann und Olden es wirklich für wichtig hielten, ob Klaus Mann oder Feuchtwanger auf den PEN-Kongressen 1935 in Barcelona, 1936 in Buenos Aires, 1937 in Paris eine Rede hielten, um über Hitler aufzuklären?

      »Wer wird für unsere Gruppe sprechen?« wird in vielen Briefen diskutiert. Glaubten sie wirklich, von einem Schriftstellerkongreß aus die Welt alarmieren zu können? Vielleicht war es auch früher anders. Vielleicht genügte es früher wirklich, die winzige mächtige Oberschicht, zu der auch große Gelehrte und große Künstler gehörten, zu warnen? Heute bedarf es eines Fernsehens für Millionen, um beileibe nicht das Gleiche, aber wenigstens annähernd das Gleiche zu erreichen. Auch ein paar andre Briefe sind erschütternd. Am groteskesten erscheint, was Hermon Ould im August 1939 mitteilt, Hermon Ould, ein Lyriker, aber eben doch ein Engländer, Erbe eines mit der Welt vertrauten Empires, schreibt an Olden: »Emil Ludwig fand, daß im Kriegsfall die PEN Zentren zusammengerufen werden sollten, um sofort etwas zu tun. Diese Idee erschien mir nicht nur unpraktisch, sondern offenbarte einen rührenden Glauben an die Macht von uns Schriftstellern, mit einer wirklichen politischen Krise fertigzuwerden. An solche Kleinigkeiten wie Visas und Transport, wenn ein Krieg ausbricht, scheint er nicht gedacht zu haben.«

      Ludwig war damals ein Millionenbestseller mit Biographien geschichtlicher Figuren.

      Heinz lebte nicht mehr. Ich saß vor Oldens Briefen und konnte nicht zu Heinz ins Zimmer gehen und ihm von meinen Entdeckungen berichten, der einzige Mensch, der das alles bis in die kleinsten Fältchen verstanden hätte. Die letzten zehn Jahre unseres Lebens hatte er jeden Morgen beim

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