Unwetter. Marijke Schermer

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Unwetter - Marijke Schermer

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Das Gesicht, das sie immer und überall wiedererkennen zu können glaubte, ist ihrer Erinnerung entschwunden. Als sie sich bemüht, es sich zu vergegenwärtigen, ähnelt es Franks Gesicht, doch sie ist sich sicher, dass es nicht wirklich Ähnlichkeit damit hatte, dass das einzig und allein mit gestern zu tun hat und ihr Gedächtnis ihr einen dummen Streich spielt, um zu verdeutlichen, wie wenig sie sich darauf verlassen kann.

      »Er ist zu Ende.«

      »Dann mach mal aus.«

      »Ich will noch einen Film gucken.«

      »Nein, Leo, mach aus.«

      »Aber ich will noch einen Film gucken! Der war ganz kurz.«

      »Leo.«

      »Bitte. Mama? Mama! Der war echt ganz kurz.«

      »Nein.«

      »Liest du mir dann was vor?«

      »Später.« Leo stampft böse in die Küche.

      Alicia sagte, sie sei erpresst worden. Leo wollte im großen Bett schlafen, nicht in seinem eigenen. Sie bat um Entschuldigung. Erpresst, womit?, wollte Emilia fragen, aber Alicia sah sie mit einer solchen Verachtung an, dass sie schwieg. Bruch ließ sich überhaupt nicht mehr blicken. Sie hatte nach Atem ringend inmitten ihres Tascheninhalts gehockt. Zugesehen, wie Alicia ihre Kontonummer auf die Wandtafel schmierte, weil sie nicht erwartete, dass Emilia noch das Portemonnaie zücken würde. Zugesehen, wie sie das Glas, das sie anfangs noch hinter ihrem Rücken versteckt hatte, in aller Seelenruhe austrank, bevor sie es leise in die Spüle stellte.

      Osip schläft in der Sofaecke ein. Sie isst das Ei, das vor ihr auf der Anrichte steht, und schält einen Apfel. Bruch ist schon seit einer Stunde weg. Ist das nicht sehr lange, in einem ziemlich kalten Fluss? Sein Bademantel hat den Pfosten in einen Mast mit roter Flagge verwandelt. Leo hockt bei seinen Legosteinen. Sie stellt einen Teller mit dem Apfel neben ihm auf den Boden und breitet eine Decke über Osip. Geht dann in den Garten. Es ist windig und noch kälter, als sie dachte. Sie läuft durch das hohe Gras. Nicht mehr lange, und es wird zu hoch für den Rasenmäher sein, sodass man ihm nur noch mit der Sense beikommt. Als Kind legte sie im großen Garten hinter ihrem Elternhaus immer eine kleine lilafarbene Decke zwischen die mannshohen Brennnesseln, zog Hose und Jacke aus und ließ sich in Unterwäsche zum Lesen nieder, gleichermaßen versteckt und gefangen. Das Rufen ihrer Mutter hörte sie irgendwo weit weg.

      Sie zupft an seinem Bademantel. Auf dem Steg stehen seine Slipper. Der Wind wirft lange Wellen mit spitzen Kämmen auf dem grauen Wasser auf. Das Wasser steht hoch. Am anderen Ufer stehen zwei Kühe und beäugen sie. Schwimmt er immer so lange? Schwimmt er zuerst stromaufwärts oder stromabwärts? Sie dreht sich um und geht zurück, vage beunruhigt, aber nicht gewillt, diese Empfindung zuzulassen. Das Haus steht klein und geduckt in der Mitte des Gartens. Unter einer großen Plane auf der einen Seite liegen Baustoffe, Holzbalken und eine Aluleiter. Die Küche, der Ausbau des Dachbodens, schließlich und endlich werden sie das doch alles machen.

      Drinnen ist alles beim Alten, ihr Gehen und Kommen sind unbemerkt geblieben. Osip schläft, Leo spielt, den Apfel hat er nicht angerührt. Emilia steht eine Zeitlang regungslos in der Küche. Sie muss etwas gegen das Gefühl tun, das sie erfasst hat. Sie muss zusehen, dass sie sich wieder den normalen, alltäglichen Dingen zuwendet und vergisst, was sie sich zu vergessen vorgenommen hatte.

      Unwillkürlich entfährt ihr ein Schrei, als die Türklingel die Stille durchbricht. Wer ist das? Am Sonntagmorgen. Um halb elf. Jemand, der sagt, dass Bruch ertrunken ist? Leo schaut zu ihr herüber. Als Emilia die Hand auf die Klinke legt, um die Tür zum Flur zu öffnen, wird hinter ihr die Terrassentür aufgeschoben. Sie erschrickt erneut. Dreht sich langsam um. Bruch steht mit nassen Haaren und vor Kälte fleckigem Gesicht im Türrahmen. Sie starrt ihn an. Er macht einen Klimmzug am Türsturz.

      Es klingelt noch einmal.

      »Erwartest du jemanden?«, fragt Emilia.

      »Sophie und Douwe, oder nicht? Jetzt schon?« Er schaut auf die Uhr.

      »Scheiße. Vergessen.« Sophie ist eine Kollegin von Bruch. Sie und ihr Mann Douwe haben versprochen, beim Abriss des Schuppens hinten im Garten zu helfen.

      »Man darf nicht Scheiße sagen«, sagt Leo. »Ich mach auf!«

      »Okay. Sag, dass wir gleich kommen.« Und in einem plötzlichen Energieschub schießen Bruch und sie die Treppe hinauf, während Leo zur Haustür läuft. Bruch geht ins Badezimmer und dreht die Dusche auf. Sie geht ins Schlafzimmer. Als sie vor dem Kleiderschrank steht, tritt Bruch hinter sie, fasst sie um die Taille und küsst ihren Nacken. Er schiebt die Hand unter ihr T-Shirt auf ihre Brust. Die Hand ist vom Flusswasser kalt und steif. Emilia stöhnt. »Du stöhnst«, flüstert er ihr ins Ohr. Dann lässt er sie los und verschwindet unter die Dusche. Sie zieht sich langsam an. Im Badezimmer kämmt sie sich die Haare und steckt sie hoch, während der Spiegel beschlägt. Dann geht sie die Treppe hinunter und holt auf den letzten Stufen tief Luft, als wollte sie unter Wasser tauchen.

      »Wie seid ihr euch eigentlich begegnet?« Sie stellt die Frage, weil sie sich wünscht, dass man ihr die Gegenfrage stellt, dass man ihre Geschichte hören will.

      »Gar nicht.«

      »Wir sind uns nicht begegnet.«

      »Ich kann mich nicht erinnern, dass Sophie je nicht da war.«

      »Seine Schwester hat mit meiner Schwester gespielt.«

      »Wir gingen in dieselbe Schule.«

      »Ich eine Klasse unter ihm.«

      »Wir haben zusammen schwimmen gelernt.«

      »Wir spielten draußen mit allen anderen gleichaltrigen Kindern aus dem Dorf.«

      »Das waren so etwa zehn, zwölf.«

      »Seine Mutter nähte Kleider für meine Puppe.«

      »Wir haben uns zum ersten Mal geküsst, als wir fünfzehn oder sechzehn waren, glaube ich.«

      »Ja, so in etwa.«

      »Aber da waren wir schon zwei Jahre zusammen.«

      »Als wir studierten, ich in Leiden, er in Delft, haben wir uns mal für ein Dreivierteljahr getrennt.«

      »Hat aber nichts gebracht. Wir haben uns vermisst.«

      »Wir fühlten uns amputiert.«

      »Ein kleiner Abstecher, um endgültig festzustellen, dass es nichts zu suchen gab.«

      »Wir hatten schon alles gefunden.« Wie um ihre Worte noch zu illustrieren, pflückte sie während dieses Duetts Gras von seiner Hose, und er hielt die Hand auf, um die Grashalme entgegenzunehmen und auf den Tisch zu legen. Als wären seine Beine auch ihre Beine. Ihre Hände waren genauso aufeinander eingespielt wie die Rechte und die Linke ein und derselben Person. Ob diese Erprobung eines Lebens ohneeinander, eines Lebens mit anderen, wohl primär sexueller Natur gewesen war, oder ging es dabei auch noch um etwas anderes? Ist das Intimleben von Jugendlieben tiefer und intensiver oder gerade nicht, weil es da kein Geheimnis gibt, keine unbekannte Vergangenheit, keine Kluft, die überbrückt werden muss? Worin liegt eigentlich das Geheimnis? Darin, dass der andere ein Leben hatte, das ihn außerhalb deiner Reichweite geformt hat?

      »Und

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