Reader Belletristik. Picus Verlag
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Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Abbildung Titelseite: ÖNB/Wien, WK1/ALB074/21528
eISBN 978-3-7117-5435-6
READER BELLETRISTIK
HERBST 2020 + ZWEITER FRÜHLING
PICUS VERLAG WIEN
INHALT
Christian Klinger
DIE LIEBENDEN VON DER PIAZZA OBERDAN
Gabriele Kögl
Stefan Slupetzky
Manfred Rumpl
Cornelia Travnicek
Josef Zweimüller
Michael Frank
Ivan Ivanji
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, farbigem Vor- und Nachsatzpapier und Lesebändchen ISBN 978-3-7117-2099-3 eISBN 978-3-7117-5428-8
Erscheint am 24. August 2020
CHRISTIAN KLINGER
DIE LIEBENDEN VON DER PIAZZA OBERDAN
ROMAN
ÜBER DAS BUCH
Eine Familiensaga aus Triest, ein Epochenroman, der von den letzten Tagen des Habsburgerreichs bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs führt, und eine tragische Liebesgeschichte in einer Stadt am Schnittpunkt der Kulturen.
Der junge Triestiner Vittorio überlebt knapp den Ersten Weltkrieg und kann sich in den bewegten Zeiten danach eine Existenz als Rechtsanwalt aufbauen. Als seine Frau ihm einen Sohn, Pino, schenkt, scheint das Glück perfekt. Im Italien des Faschismus hilft Vittorio Juden und Slowenen dabei, Geldmittel für die Emigration aufzubringen, womit er allerdings die Behörden auf sich aufmerksam macht.
Pino, der unterdessen behütet und geliebt aufgewachsen ist, beginnt ein Architekturstudium, das ihn 1940 vor der Einberufung bewahrt. Mit der jungen Lehrerin Laura verbindet ihn eine große sehnsuchtsvolle Liebe. Mehr oder weniger unabsichtlich gerät er in Kontakt mit Partisanen – was ihn ins Visier der Gestapo bringt …
DER AUTOR
Foto Paul Feuersänger
Christian Klinger, geboren 1966 in Wien, Studium der Rechtswissenschaften. Seit 2017 Zweitwohnsitz in Triest. Er veröffentlichte zahlreiche Krimis und Beiträge in Anthologien, erhielt den Luitpolt-Stern-Förderpreis und war auf der Auswahlliste des Agatha-Christie-Krimipreises (2011). www.christian-klinger.at
WIENER ZEITUNG VOM 29. JULI 1914
An meine Völker!
Mit diesen drei Worten begann die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts und sie nahm ihren Ausgang in Wien. Mit diesen drei Worten war die Initialzündung gelegt. Diese Worte trieben einen endgültigen Keil zwischen die Völker Europas und legten es in den nächsten drei Jahrzehnten wiederholt in Schutt und Asche. Sie ließen zerteilte Länder, verbrannte Erde und vertriebene, verhungerte, entrechtete, ermordete Völker zurück und bahnten dem kollektiven Hass den Weg.
6. APRIL 1945, TAG NULL, FREITAG
Durch die Luke in der Holztür zwängte sich ein schmaler Streifen Licht in die Zelle und schenkte den Insassen Hoffnung. Die Nacht war vorbei. Ein neuer Tag hatte begonnen, und das bedeutete, dass sie den alten überstanden hatten.
Doch auch dieser Tag fand seinen Anfang in einem Schrei. Ein Schrei, der klang, als versuchte die Stimme, diesen gequälten Körper zu verlassen. Eine Flucht hinaus und weg von dem Ort der Schmerzen.
Und da kamen vom Hof noch andere Schreie: Die ukrainischen Wachen rülpsten sie aus ihren betrunkenen Kehlen. Es waren Hetzrufe, bissig wie scharfe Hunde, denen man die Kette abgenommen hatte. Sie bohrten sich in die Gehirne der Gefangenen.
Pino griff nach seiner Jacke und tastete sie vorsichtig ab. Es brauchte seine Zeit, bis sich ein leichter Widerstand unter dem Stoff gegen den sanften Druck seiner Finger stemmte. Sie würden es nicht finden, machte er sich Mut. Mit dem Anflug eines Lächelns streckte er sich auf der Pritsche aus. Vorsichtig, damit ihn die Prellungen nicht schmerzten.
Unter ihm regte sich Stipe. Der stöhnte, als er seinen Körper auf die Seite drehte. Auf ihn hatten es die Aufseher gestern besonders abgesehen. Er hatte die lauteste Stimme. Und die schönste.
Die abgestandene Luft in dem engen Kabuff roch sauer. Nach Schweiß und nach Urin. Es kam vor, dass man es nicht mehr halten konnte, wenn sie einen in eine Ohnmacht prügelten. Hier störte das keinen mehr und die freute es, wenn einer in seinen eigenen Exkrementen krepierte. Es war eng, so eng, dass man kaum atmen konnte, aber sie waren unter sich, und keiner von ihnen, die das Schicksal so boshaft zusammengeführt hatte, zählte mehr als fünfundzwanzig Jahre.
Vielleicht hätten sie ihn gehen lassen. Vielleicht würden sie ihn sogar jetzt noch gehen lassen. Er hatte Häuser bauen wollen. Groß und eindrucksvoll wie das Empire State Building in New York. Doch er würde New York nie sehen, nie würde sein Fuß amerikanischen Boden betreten. Feindesland jetzt.