Reader Belletristik. Picus Verlag
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336 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und farbigem Vor- und Nachsatzpapier ISBN 978-3-7117-2098-6 eISBN 978-3-7117-5432-5
Erscheint am 24. August 2020
GABRIELE KÖGL
GIPSKIND
ROMAN
ÜBER DAS BUCH
Gabriele Kögls Antiheimatroman im Geiste von Didier Eribon und Annie Ernaux gleicht einer bäuerlichen Familienaufstellung aus den sechziger Jahren, in der ein auf seine Mängel reduziertes Kind aus dem Schatten tritt und sein Leben in die Hand nimmt.
Als Problemkind und Liebling der Oma wächst Andrea in engen und ärmlichen Verhältnissen auf dem Land auf. Ihren Eltern fehlt es an Liebe und Verständnis, zu sehr sind sie mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt. Ihre Tochter ist für sie vor allem Arbeitskraft und Mittel zum Zweck.
Langsam schält Andrea sich aber heraus und lernt mit zunehmendem Alter, Schwächen strategisch einzusetzen und ungeahnte Freiräume zu erobern. Und während der Freund des Mädchens durch die intensive Bindung an seine Eltern deren Wünsche erfüllt anstatt seine eigenen, gelingt es Andrea, ohne Rücksicht auf die lieblosen Eltern ihre Träume zu verwirklichen.
DIE AUTORIN
Foto Paul Feuersänger
Gabriele Kögl wurde in Graz geboren und wuchs in der Weststeiermark auf. Sie absolvierte ein Lehramtsstudium in Graz sowie ein Studium an der Filmakademie Wien. Sie verfasste Drehbücher für Kurz- und Dokumentarfilme, seit 1990 schreibt sie literarische Texte: Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Gabriele Kögl erhielt zahlreiche Preise, zuletzt wurde sie 2019 für ihr Hörspiel »Höllenkinder« mit dem Prix Europa für das beste europäische Hörspiel des Jahres ausgezeichnet.
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Sie steht nicht auf. Warum kann sie noch immer nicht aufstehen? Sie ist schon neun Monate alt und steht noch immer nicht auf. Sie sagt schon Mama und Papa und Oma und kann noch immer nicht aufstehen. Ihr müsst zum Arzt mit ihr gehen, sonst bleibt sie euch liegen, ihr müsst dem Arzt sagen, dass sie noch immer nicht aufstehen kann. Der hätte es längst sehen müssen, bei der Mütterberatung. Die ist nicht spät dran mit dem Gehen und mit dem Reden zu früh, die hat was mit den Knochen, da stimmt was nicht.
Die Oma sah gleich, dass etwas nicht stimmte. Und dann gingen sie doch zum Arzt mit der Kleinen, außerhalb eines Termins der Mütterberatung, und der Arzt sah dann auch, dass etwas nicht stimmte mit ihr und schickte die Mutter weiter, in die große Stadt mit dem kleinen Kind, zu einer gründlichen Untersuchung, mit besseren Geräten als der Hausarzt sie hat, damit sie herausfinden könnten, warum die Kleine noch immer nicht aufstand, obwohl sie längst alt genug dafür war. Zum Glück war nichts mit dem Kopf, nur mit den Beinen, sagte die Oma, denn wenn eine mit neun Monaten schon Mama, Papa und Oma sagen kann, die hat nichts mit dem Kopf, die hat es höchstens in den Beinen, mit denen sie nicht gehen kann.
Im Krankenhaus behielten sie die Kleine gleich, weil es für Zügerln und Breitwickeln zu spät war. Die bekam einen Gips, an beiden Beinen, viel Gips, von oben bis unten. Im Krankenhaus musste sie dann bleiben, und die Eltern mussten gehen und durften nicht wiederkommen, weil die Ärzte ihnen gesagt hatten, dass die Kinder noch mehr weinen, wenn die Eltern kommen und wieder gehen und der kleine Wurm sowieso dortbleiben muss. Da sei es gleich besser, sie kämen gar nicht hin, damit das Kind die Eltern schnell vergessen könne. Dann weinte es vielleicht weniger und gewöhnte sich schneller daran, dass es allein sei und im Krankenhaus bleiben müsse zur Operation, wenn das Gelenk eingerenkt werden oder der Gips auf die Beinchen angelegt werden müsse.
Doch die Oma kam trotzdem. Mit dem Zug fuhr sie die weite Strecke vom Dorf in die Stadt, aber dort ließ man sie nicht hinein ins Zimmer zur Kleinen. Der ganze weite Weg sei umsonst, sagten sie, nur einen Blick, flehte die Großmutter, nur einen einzigen Blick wolle sie hineinwerfen auf das Kind, den sie dann auch hineinwarf vom Gang aus, damit sie sehen konnte, ob es der Kleinen gut ging und ob sie beruhigt wieder heimfahren konnte den ganzen weiten Weg.
Aber das Kind hörte die Oma, mit seinen feinen Ohren, wie sie draußen mit der Schwester redete, und es begann zu schreien, als würde man es abstechen wie eine Sau, so wie zu Hause die Säue schrien, wenn man sie abstach. Das Kind rief »Oma, Oma«, aber die Oma durfte trotzdem nicht zum Kind. Nur den einen Blick konnte sie werfen auf die Kleine in ihrem Gitterbett und musste wieder fahren, während die Kleine noch stundenlang weiterschrie und »Oma, Oma« rief, so laut, dass die Großmutter es draußen auf der Straße noch hören musste.
Immer wieder musste das Kind ins Krankenhaus zum Gipswechseln. Und dann bekamen es die Eltern immer krank zurück. Mit Husten und Schnupfen und manchmal glaubte man, es erstickt, weil es keine Luft bekam vor lauter dickem Rotz in der Nase. Tagelang weinte es nur und war nicht zu beruhigen und niemanden wollte es haben, die Mutter nicht und auch den Vater nicht. Alle stieß die Kleine von sich. Und jedes Mal, wenn sie mit dem Kind in die große Stadt fuhren, schrie es nur und plärrte, weil es schon wusste, dass sie es wieder dort lassen würden. Und die Eltern konnten nichts machen dagegen, weil sie wollten, dass die Kleine einmal gehen würde können, später einmal.
Und lange danach hielt sich das Kind noch immer im Auto fest und wollte nicht aussteigen, wenn es ein großes Haus sah, weil es sich dachte, jedes große Haus ist ein Spital.
Wenn die Kleine mit dem Gips, der ihre Beinchen gespreizt hielt, daheim war, konnte man sie kaum aufheben, so schwer war sie mit der Gipsrüstung. Und die Mutter ließ sie immer liegen, damit sie sich beruhigte und nicht so viel herumplärrte in der Gegend. Die Mutter hatte ja die Arbeit auch noch, nicht nur das anstrengende Kind. Die Arbeit auf den Feldern und im Garten und bei den Schweinen und den Kühen im Stall. Da war nicht so viel Zeit fürs Herumtragen der kleinen Kinder, und schon gar nicht, wenn eines so schwer war mit etlichen Kilo Gips drauf. Zum Glück waren die anderen leichter. Aber die Oma holte das schwere trotzdem aus dem Zimmer, hievte es auf den Leiterwagen und fuhr mit ihm herum in der Gegend. Das machte sonst niemand im Dorf, dass er herumgefahren wäre mit den kleinen Kindern, die noch nicht gehen konnten. Die Oma hob sich einen Bruch dabei, weil sie das schwere Gipskind aus dem Zimmer hinaustragen und in den Leiterwagen heben musste, weil das Kind auch in keinen Kinderwagen passte mit dem großen, dicken Gips drauf, der ihm von den Hüften bis zu den Waden reichte. Mit dem Leiterwagen zogen sie durch das Dorf, die Oma und das Gipskind, und da war es kein Wunder, dass die Kleine bald in ganzen Sätzen reden konnte, weil beim Sitzen im Leiterwagen hatte sie Zeit zum Schauen und zum Zuhören, wenn die Oma ihr Geschichten erzählte von ihrer Kindheit, in der sie sieben Kinder gewesen waren. Die anderen fünf, die ihre Mutter auch noch bekommen hatte, waren gestorben. Das war damals so und es war fast schon ein Wunder, dass überhaupt sieben überlebt haben, die mussten damals zäh wie Katzen gewesen sein und brauchten sieben Leben, um Diphtherie,