Reader Belletristik. Picus Verlag

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ein Kreuz (das fast gar nicht mehr) und gingen zum Nächsten weiter, über den sie sich beugten, um einen ersten Eindruck zu gewinnen. Einen Eindruck, der über die Chance, die nächsten Stunden zu erleben, Auskunft geben sollte. Die meisten ließen sie liegen. Auch Vittorio hätten sie liegen gelassen. Er atmete kaum, der Kadaver des Tieres verdeckte seinen Körper, unter ihm eine Blutlache. Jacopo schnellte vor, Gefahr durch einzelne Heckenschützen schien nicht mehr zu bestehen, und deutete auf den Körper seines bewusstlosen Studienkollegen. »He, was ist mit ihm?«

      Der eine Sanitäter schob sich an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Seine Uniform war schlamm- und blutverschmiert und auf seinem Bart klebten Krusten von Blut oder Eiter. Über der Stirn hatte er sich offensichtlich selbst einen Verband angelegt. Im Mundwinkel hing, nur vom Speichel gehalten, eine Zigarette, die erloschen war. Jacopo ging ihm nach und bekam ihn an der Schulter zu fassen. »Was ist mit ihm, hab ich gefragt!« Er schob sich an dem apathisch wirkenden Mann vorbei und stellte sich dem anderen Helfer in den Weg.

      Der hintere Sanitäter mit dem Verband drehte sich zu Vittorio hin und gab ihm einen Tritt in das unter dem Pferd hervorragende Bein. »Da ist nichts zu machen, der wird nicht mehr.« Mit dem Blick deutete er auf das Blut.

      »Ihr Trottel, das ist nicht seins, glaubt mir, der wird wieder, der hat nichts abgekriegt.«

      Jetzt zeigte der Vordermann doch eine Reaktion, indem er laut auflachte. »Nichts abgekriegt? Auf dem liegt ein halbes Pferd. Wer da wohl der Trottel ist.«

      Da stürzte Jacopo zu Vittorio hin und zerrte wild und unablässig an dem Leichnam des Tieres. Ungläubig sahen die beiden Sanitäter dem jungen Mann in der zerrissenen Uniform zu, wie er immer mehr an Mensch zutage förderte und wie sich langsam dessen Brustkorb hob, als endlich wieder Luft in die Lungen strömen konnte. Als sich Vittorios Gesicht von Aschgrau wieder zu normalem Kriegsbleich gefärbt hatte, begriffen die Sanitäter. »Der Cretino hat recht«, sagten sie zueinander, »der lebt noch.« Auch das Stöhnen, das Vittorio von sich gab, als sie ihn auf ihre Bahre luden, klang nach Lebenswillen und unterschied sich von den üblichen Todeslauten der Verwundeten.

      Sie brachten ihn ins Ospedale Militare Principale nach Padua. Die Stadt, der er als Student den Rücken gekehrt hatte, um seinen Patriotismus im Feld unter Beweis zu stellen, empfing Vittorio jetzt als einen von vielen Verwundeten. Wegen der immer größer werdenden Verluste, zu denen die Militärführung auch die Verwundeten zählte, war man gezwungen gewesen, immer größere Kapazitäten für diese zu schaffen. Die wenigen Feldlazarette reichten schon lange nicht mehr aus. Seit diesem Jahr hatte sich Padua zu einem regelrechten Spitalszentrum des Krieges entwickelt. Zusätzlich zum Militärspital hatte man auch in den zivilen Einrichtungen wie dem Ospedale Civile mehrere Hundert Betten für die im Kampf Verletzten vorgesehen, sodass die Stadt nun insgesamt über eine Kapazität von mehreren Tausend Betten verfügte. Doch auch diese war bald erreicht. Der Krieg fraß die Menschen, und diejenigen, denen er nur ein Bein oder einen Arm abgebissen hatte, landeten hier.

      Vittorio lag in einem Saal mit gut dreißig Metallbetten. Das Quietschen der ausgedienten Bettfedern vermengte sich mit dem Röcheln und Stöhnen der Kriegsversehrten. Sie trugen blutgetränkte Verbände am Kopf oder über das Gesicht, andere hatten dort, wo früher eine Extremität gewesen war, nur mehr einen abgebundenen Stumpf. Morphium und andere Opiate standen mit dem Fortschreiten des Krieges kaum mehr zur Verfügung, also mussten die Patienten die Operationen ohne entsprechende Narkose über sich ergehen lassen. Chirurgie mutierte zur Fleischhauerei.

      Die Luft war abgestanden und drückend. Die Ausdünstungen der Patienten vermengten sich mit dem Arbeitsschweiß der Pfleger und der wenigen Schwestern, die man hier einsetzte, und man roch die Anstrengung derer, die mit dem Tod kämpften, und jener, die sich für deren Leben einsetzten.

      Vittorio schien zu den Glücklichen zu gehören, denen das Schicksal weniger böse mitgespielt hatte. Er war bei seiner Einlieferung nicht aus der Bewusstlosigkeit erwacht und hatte dann ein paar Tage vor sich hin gedämmert. Vor zwei Tagen hatte er sich erstmals aufsetzen können. Er klemmte sich an das Bettgestell und stellte zum ersten Mal die Beine auf den Boden. Das Brennen und Ziehen in seinem Unterleib hatten ihn aber sofort wieder in die Liegeposition gezwungen, wo die Schmerzen bald ein wenig nachließen.

      Auf seine Frage, wie schwer es ihn erwischt hatte, hörte er von den Schwestern nur: »Warten Sie auf den Arzt«, und auch vom Pfleger, der ihm Essen brachte und ihn notdürftig wusch, erhielt er dieselbe Antwort.

      Bis auf wenige Ausnahmen wahrten die Schwestern und das Krankenpersonal die Distanz zu den Verwundeten. Offenbar wollte man keine emotionale Bindung zu jenen aufbauen, von denen man nicht wissen konnte, ob sie die Nacht überleben und ihr Bett für den nächsten Patienten demnächst frei machen würden.

      Durch die Fenster drang schwüle, heiße Luft, die sich als zusätzliche Last auf die Verwundeten legte. Der Luftzug, der die Vorhänge schweben und den Stoffbezug der wenigen Paravents zwischen den Betten tanzen ließ, brachte anstelle von Linderung zusätzliche Wärmeströme. Den Fiebernden legte man nasse Tücher auf die Stirn, in der Hoffnung, ihnen so ein wenig Kühlung zu verschaffen.

      Der Arzt war ein zerknautschter Typ von etwa vierzig Jahren. Sein fahles Gesicht war unter dem strohgelben Bart, der wie ein Rapsfeld im Frühjahr hervorstach, von Kanten und Furchen durchzogen. Meistens schritt er gehetzt durch die Gänge zwischen den Krankenbetten, schnaufend vor Eile und Rauchwolken verpuffend. In seinem Mundwinkel klebte eine Zigarette, die zu seinem Gesicht zu gehören schien wie seine Nase. Er rauchte auch beim Operieren, und wenn er dabei ein Aschehäufchen verlor, meinte er nur, Asche sei antiseptisch und für den Patienten in dessen Situation noch das Beste, was ihm passieren konnte. Sein Kittel war blutverschmiert, und hätte er nicht diesen durchbohrenden Blick gehabt, der Medizinern gemein ist, die auch ohne Röntgen in ihre Patienten schauen können, man hätte ihn leicht mit einem Fleischer verwechseln können. So viel anders war seine Aufgabe hier auch nicht, wenn er die zerfetzten Gliedmaßen abtrennte, um zumindest den Rest des Körpers zu retten.

      In einer Rauchwolke begab er sich heute zu Vittorios Bett. Der versuchte sich aufzurichten, um zu salutieren. Auch wenn der Doktor keine Uniform trug, waren die Chirurgen doch alle im Rang eines Kapitäns oder zumindest eines Leutnants.

      »Ah, ich sehe, unserem Ritter geht es schon wieder besser.«

      Die Geschichte seines Tierpanzers hatte schnell die Runde gemacht. Sein Überleben und seine Errettung waren wegen der skurrilen Begleitumstände wohl außergewöhnlicher als so mancher Heldentod, der oft still und unbeobachtet gestorben wurde.

      Ein Stechen und ein ziehender Schmerz, der wie ein Aufschrei seinen Körper durchdrang, zwangen Vittorio dazu, sich wieder auf die Matratze fallen zu lassen. Er konnte sich nur am Ellenbogen aufstützen, um nicht wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken zu liegen.

      Doch jetzt, da endlich die Gelegenheit bestand, Auskunft über seinen Zustand zu erhalten, galt Vittorios erster Gedanke etwas völlig anderem: »Haben wir Triest erobert?«

      Irritiert wandte sich der Militärarzt zu seinem Adjutanten um, der den Kopf schüttelte.

      »Aber wieso denn nicht? Wir standen doch schon so gut wie vor dessen Toren?«

      Der Arzt dämpfte die Zigarette in einem Blechnapf aus und sagte: »Diese Frage musst du dem Generalstab stellen, ich bin nur für den menschlichen Auswurf von dessen Plänen zuständig. In dieser Eigenschaft kann ich dir nur sagen, dass der Krieg für dich zu Ende ist. Sobald wir dich wiederhergestellt haben, gehst du am besten nach Hause.«

      »Ich kann nicht nach Hause. Meine Familie stammt aus Triest. Ich habe hier in Padua nur studiert.«

      »Dann studier fertig und such dir eine Arbeit und dann eine Frau. In genau der Reihenfolge.«

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