Reader Belletristik. Picus Verlag
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Da hatte man mit dem Buben schon mehr Glück. Der war gesund und schon als kleiner Racker zu gebrauchen, um im Stall beim Ausmisten zu helfen und die Kühe zu melken. Beim Mädel nutzte das ganze Schlafenlegen nichts. Auch nicht das Schreienlassen. Wenn die Mutter draußen bei der Arbeit war, hörte sie die Plärrerei sowieso nicht. Aber die Oma hörte sie, und sie holte die Kleine heimlich heraus aus dem Elternschlafzimmer und beruhigte sie, auch wenn die Mutter dann schimpfte mit ihr, dass nie etwas Gescheites werden würde aus der Kleinen, wenn sie nicht ein bisschen abgehärtet würde, denn verzärtelt sei sie ohnehin schon worden durch die Krankheit. Sie habe fast von Anfang an eine Sonderbehandlung bekommen, und jetzt könne man sehen, was man davon habe.
Frech ist sie geworden und viel zu viel redet sie für ihr Alter. Und sie fragt so viel und schnappt auch immer zurück, wenn man ihr sagt, dass sie still sein soll oder aufhören mit der ewigen Fragerei. Wenn der Vater sagt, sie soll den Mund halten bei Tisch, dann sagt sie doch glatt: »Nein, ich halte ihn nicht.«
Und wenn der Vater sagt: »Dann kriegst du eine hinten drauf!«, dann sagt die Kleine: »Ich halte ihn trotzdem nicht. Halte ihn doch selber.«
Da muss sich dann niemand wundern. Der Vater hat eh eine Eselsgeduld, wo ihm schon der ganze rote Zorn mitten im Gesicht steht. Er droht ihr ein drittes Mal, und dann schlägt er zu, fester, als er will, und bald liegt die Kleine auf dem Boden und schreit: »Ich halte ihn trotzdem nicht!«
Da tritt der Vater zu, zuerst in die Beine und bricht sie beinahe, wo sie doch vorher so mühsam mit Gips zusammengehalten wurden. Und dann in den Bauch. Und die Kleine schreit: »Und wenn du mich erschlägst, ich halte ihn trotzdem nicht!«
Da würde ihr der Vater am liebsten den Mund eintreten mit seinen Füßen, wen wundert’s, aber die Großmutter geht dazwischen und schreit: »Wenn du so weitermachst, bringst du sie noch um!«
Da kommt er langsam wieder zu Sinnen und lässt ab von der Kleinen, während die Mutter meint, die hätten sie notwendig gehabt. Zuerst hätten sie alles getan, damit ein Mensch wird aus diesem verkrüppelten Kind, und dann möchte man es am liebsten umbringen, weil so ein Teufel geworden ist aus ihm.
Der Vater sitzt derweil auf seinem Platz am Stubentisch und weint. Er nimmt die Kleine, die gar nicht weint, auf den Schoß, drückt sie so fest an sich, dass die Kleine fast keine Luft mehr bekommt und sagt: »Warum machst du mich so zornig, Kleine? Ich könnte jetzt sterben vor Wut, dass ich so grob zu dir war.«
Und dann weint er, und die Kleine streicht ihm über dem Kopf und sagt: »War nicht so schlimm. Tut gar nicht mehr weh. Wird schon wieder gut!«
Den Jähzorn hat er von seinem Vater, sagte die Oma zur Kleinen. Der hat auch zugeschlagen, bevor er hingeschaut hat.
Später werden die Oma und die Kleine zusammen im Bett liegen, Kopf an Kopf mit den Eltern, nur durch eine Wand getrennt, die im Nebenzimmer schlafen, und sie werden lange Rosenkränze beten, immer wieder, bis sie müde sind, so müde, dass sie einschlafen beim Beten. Und all diese Rosenkränze beten sie für den Opa, den verstorbenen Mann der Oma, weil er sie so schlecht behandelt hat zu seinen Lebzeiten, damit er trotzdem in den Himmel kommt.
Die Kleine merkte recht früh, dass sie sich auf die Eltern nicht verlassen konnte. Das fing schon an mit der Christkindlüge und der Storchenlüge und ging dann weiter mit der Ovomaltine- und mit der Bruderlüge und hörte nie mehr auf. Zu Weihnachten musste die Kleine hinausgehen, wenn das Christkind hereingekommen war in die Stube. Und dann war der Christbaum da, er stand auf einem Tisch, den das Christkind auch noch hineingestellt hatte, denn sonst stand dieser Tisch im Schlafzimmer der Eltern. Das Kind stellte sich vor, wie viel Arbeit es für das Christkind gewesen war, dass es erst den Tisch abräumen und vom Schlafzimmer der Eltern in die Stube tragen musste, das kleine, zarte Christkind, das eh schon den Baum und die Geschenke schleppen musste wie ein Tragesel. Die Kleine hätte ihn keinen Zentimeter verschieben können, auch wenn nichts draufgestanden wäre, und das arme Christkind musste ihn vom Zimmer der Eltern bei der Tür hinaus-, oder beim Fenster, wer weiß das so genau, und dann beim Stubenfenster wieder hereinbringen, wo das Fenster doch viel zu klein war für den großen Tisch. Und als die Kleine wieder hineindurfte vom Großmutterzimmer in die Stube, war der Vorhang ein bisschen auf die Seite geschoben, weil es das Christkind eilig gehabt hatte und den Vorhang nicht gescheit zugezogen hatte, als es weitergeflogen war zu den anderen Häusern und den anderen Kindern, sagte die Mutter.
Der Kleinen tat das Christkind leid, weil es so viel arbeiten musste zu Weihnachten, zum Glück hatte es Flügel, denn wenn es so schlecht hätte gehen können wie das Gipskind mit seinen X-Beinen und den schlecht sitzenden Hüften, dann wäre es wohl nicht fertig geworden mit der Arbeit, und die anderen Kinder hätten am Heiligen Abend durch die Finger geschaut statt auf einen leuchtenden Christbaum.
So viele Gedanken machte sich die Kleine über das arme Christkind, und lieber hätte sie auf den Christbaum und auf die Geschenke verzichtet, als dass sie gewollt hätte, dass das Christkind so schwer arbeiten muss. Dann wären ihre Ängste und Sorgen für nichts gewesen, als sie in der Schule ausgelacht wurde, weil sie noch immer ans Christkind glaubte, während die anderen schon längst wussten, was zu Weihnachten wirklich gespielt wurde. Die Kleine bestand darauf, dass die Christkindgeschichte stimmte, weil die Eltern sie doch nicht anlügen würden. Und als sie die Mutter fragte, wie das denn sei mit dem Christkind, lachte die Mutter genauso wie ihre Freundinnen in der Schule und sagte, sie hätte nicht gedacht, dass ihr Kind so dumm sei und so lange an das Christkind glaube, sie habe immer gedacht, die Kleine sei gescheit, weil sie schon so früh habe reden können, und tue nur vor den Eltern so dumm, damit sie möglichst lange viele Geschenke bekäme.
Die Kleine hatte sich eine Schwester gewünscht. So eine wie ihre jüngere Cousine Almut, eine Schwester, mit der sie dann immer zusammen sein könnte, nicht nur in den Ferien. Der große Bruder war nämlich viel zu groß und zu alt, der war nicht geeignet zum Reden und zum Spielen.
Die Mutter sagte, den Wunsch nach einer Schwester könne sie ihr nicht erfüllen, da müsse sich die Kleine schon selber drum kümmern, dass sie noch zu einem Geschwisterchen komme. Sie müsse jeden Abend draußen ein Sackerl Zucker auf das Fensterbrett stellen, dann käme der Storch. Er würde den Zucker mitnehmen und ein Putzerl dafür herbringen und es statt des Zuckers aufs Fensterbrett legen.
Jeden Morgen ging die Kleine als Erstes zum Fenster schauen, und immer war der Zucker weg, und nie war ein Putzerl da. Sie dachte, vielleicht versteht der Storch nicht, was sie will, deshalb legte sie einen Brief dazu. Der Brief war am nächsten Morgen auch weg, aber Putzerl war noch immer keines da. Da schnitt sie aus dem Quelle-Katalog Putzerln aus und legte jeden Tag eines zum Sackerl mit Zucker dazu, weil sie dachte, vielleicht kann der Storch nicht lesen, und immer war das Katalogputzerl weg, aber nie lieferte der Storch ein echtes dafür. Sie bekam eine Wut auf die Störche, bis sie wieder einmal im Krankenhaus war und im Zimmer mit einem älteren Mädchen lag, dem sie erzählte, dass der Storch immer den Zucker abholte, aber nie ein Baby dafür brachte. Und das Mädchen lachte sie aus und sagte, dass ihr der Storch nie ein Baby bringen würde, weil er das gar nicht könne. Der könnte höchstens ein Storchenbaby bringen. Das Menschenbaby komme von der Mutter und vom Vater, die ihre Lulus so lange zusammenstecken, bis die Mutter einen Bauch bekommt, der immer größer und größer wird. Und bevor er platzt, kommt das Baby aus dem Lulu heraus, genau dort, wo vorher das Lulu vom Vater hineingeronnen ist. Und da musste die Kleine lachen über den Unsinn, den ihr die Größere erzählte. Wie sollte denn aus dem kleinen Lulu der Mutter so ein großes Baby herauskommen?