Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann. Franziska Steinhauer
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»Im Mittelalter, bei einem Pestausbruch, kam es auch zu unorthodoxen Entsorgungen der Toten«, erinnerte der Pirat die Kollegen. »Da gab es nur wenige, die freiwillig die vielen Toten zusammensammelten, um sie in Massengräber zu legen. Da mag so was schon vorgekommen sein. Aber doch nicht bei Typhus im 20. Jahrhundert!«
»Die Leute auf der ›Insel‹ reden von Mord.«
»Das tun sie schon länger. Die gruseln sich gern.«
»Aber nun ist es ihnen ernst. Manche denken, es gibt einen auf der ›Insel‹, der Jungs fängt und nach Afrika verschachert. Wenn von denen einer nicht wollte? Sich herzhaft und entschlossen gewehrt hat? Dabei zu Tode kam?« Hans legte die Stirn in dicke Falten.
»Dann kam er im Händel um, und sein Kopf landete in der Leine? Und der Rest?«, fragte der Pirat sachlich. »Warum ist der dann nicht auch angeschwemmt worden? Und wieso wurden nicht die toten Körper angeschwemmt, sondern nur halb blanke Schädel? Normalerweise findet man doch aufgetriebene Körper am Ufer, wenn jemand in der Leine treibt. Tja, Fragen über Fragen. Die uns wahrscheinlich so schnell keiner beantworten will.«
Sie prosteten sich zu.
»Na prima. Und was schreiben wir darüber? Und vor allem – wie?«
»Wie wohl? Wir stärken unsere Auflagen!«, gab der Pirat kryptisch zurück.
11. Kapitel
1924 im Juni
In der zweiten Woche des Unterwegsseins fiel Ludwig eine gewisse Unruhe an seinem Freund auf.
Als sie am Abend vor dem Zelt saßen, fasste er sich ein Herz und fragte: »Theo, hör mal! Ich merke doch schon seit einiger Zeit, dass etwas mit dir nicht stimmt. Du bist so unruhig.«
»Mit mir? Ich bin doch nicht unruhig. Warum sollte ich denn unruhig sein?«
»Das hast du schon zu Schulzeiten so gemacht!«, lachte der Freund. »Immer, wenn dir eine Frage unangenehm war, hast du sie in eine Gegenfrage umformuliert. Solange bis der andere gar nicht mehr wusste, was er ursprünglich von dir wissen wollte. Sehr clever!«
Theo stimmte in das Gelächter ein. »Nun, es ist eine Methode, die richtig gut funktioniert!«
»Bei den meisten. Aber nicht bei mir! Also was ist los?«, insistierte Ludwig.
»Ach, na ja«, druckste Theo, »ich weiß, wir haben versprochen, nicht nach Hannover zu fahren. Aber inzwischen reut mich das. Nur weil man dort ein paar Knochen in der Leine gefunden hat, muss es doch nicht gefährlich sein! Wer weiß, vielleicht sind es einfach nur Schweineknochen, die jemand entsorgt hat. Und das soll als Grund ausreichen, die Stadt ganz zu meiden? Wir könnten in ein Lichtspieltheater gehen!« Dabei sah er den Freund auffordernd an.
»Wir haben es nicht nur versprochen. Ich musste es deiner Mutter schwören! Aufpassen soll ich auf dich! Das hat sie mir aufgetragen.« Ein rascher Seitenblick enthüllte, dass sich die Miene des Freundes verhärtete. Also setzte er schnell hinzu: »Natürlich habe ich ihr gleich gesagt, dass wir beide gegenseitig aufeinander achtgeben werden. Ich sei schließlich kaum älter als du! Mütter sind eben manchmal schwierig. Aber wir müssen ohnehin in die Stadt, um die Abfahrtzeit des Zuges herauszufinden. Kein Grund, nicht bei der Gelegenheit ins Lichtspielhaus zu gehen.«
Theo nickte.
Dann rief er plötzlich, als habe es die Sätze davor gar nicht gegeben: »Oder Theater!«, breitete die Arme weit auf und ließ sich rückwärts ins Gras fallen, schloss die Augen und schwärmte: »Wenn du eine Rolle einstudierst, dann ist es, als gäbest du einen Teil deines Selbst auf und schlüpfest in die Haut, nein, in das gesamte Leben eines anderen. Erst fühlt es sich ungewohnt an. Als wären Haut und Leben an manchen Stellen zu eng, an einigen zu weit. Aber mit der Zeit spürst du, wie dein Denken und Empfinden sich völlig einschmiegen. Plötzlich rückt alles an den richtigen Platz – und es ist, als wäre es nie anders gewesen. Du wirst die Rolle! Dann stehst du auf der Bühne, die Dialoge entsprechen dir, du musst sie gar nicht auswendig hersagen. Sie ergeben sich ganz natürlich im Spiel. Es ist, als würdest du vollständig diese fremde Person. Und alles ist möglich: Bösewicht, guter Mensch, Melancholiker, Choleriker, Hexer … man kann sich in allen Charakteren mit ihren Stärken und Schwächen ausprobieren«, schwelgte er und sah dabei unendlich glücklich aus. Ludwig konnte schmerzhaft spüren, wie schwer es für Theo war, diesen Traum aufgeben zu müssen, bevor er ihn je wirklich gelebt hatte. »Doch das Wunderbarste überhaupt ist der Applaus! Es fühlt sich unbeschreiblich an. Ist mehr als jeder Orden – und doch: Er gilt nur für diesen einen Moment. Berauscht dich mehr, als Alkohol es je vermöchte!«
»Hm. Das muss wahrhaft unglaublich sein. Klingt nach magischen Momenten, Erfahrungen, die einzigartig sind. Wie oft verzichten wir doch darauf, die Seite unseres Selbst auszuleben, die uns bei anderen unbeliebt machen könnte! Weil wir gut erzogen sind, niemanden verletzen und immer Teil des Ganzen bleiben möchten, geliebt und anerkannt. Und verpassen dabei so viel. Manchmal gar das, was wir Leben nennen würden!«
Theo öffnete ein Auge und zog die dazugehörige Braue fast bis zum Haaransatz. »Aha. Bei dir?«
»Ich werde Medizin studieren, aber die Praxis meines Vaters wollte ich nie übernehmen! Jeden Tag dieselben Leute. Sie zu heilen ist nur selten eine Herausforderung. Es geht nicht um den Durchbruch in der Herzchirurgie, sondern um das Pinseln von Hautpilzen! Das Verschreiben von Pülverchen gegen Kopfschmerz! Nein, das ist wie Stillstand im Alter von Mitte 20! Ohne das Potenzial für Entwicklung. Meine Träume sind von deinen gründlich unterschieden, aber mit meinem geplanten Schicksal als Arzt auf dem Lande haben sie nichts gemein.«
»Und? Wie sieht deine Planung für die nächsten – sagen wir – 60 Jahre aus, könntest du frei entscheiden?«
Ludwig lachte leise. »60?«
»Nun, wenn wir von einem weiteren Krieg verschont bleiben, weil die Menschheit unerwartet klug geworden ist, so könnte das klappen. Mit ein bisschen Glück haben ja alle aus den letzten Jahren gelernt und stürzen unsere Generation nicht noch einmal in solch eine Katastrophe. Dann kann unser Lebensfaden sich ungestört ausspannen und wird nicht unerwartet gekappt!«
»Meine nächsten 60 Jahre also«, begann Ludwig versonnen. »Gut. Studieren wollte ich schon – entweder Medizin und Pharmazie oder Politik. Im ersteren Fall wäre es mein Traum gewesen, neue Medikamente zu entwickeln, die gegen viele der Erkrankungen helfen, an denen heute noch überall gestorben wird. Methoden zu finden, die Leben retten. Als Arzt auf dem Dorf? Der Durchbruch gegen Infektionskrankheiten, die Entdeckung, die die Welt verändert, wird im winzigen Labor meines Vaters gemacht? Hinter dem Sprechzimmer? An einem Sonntag nach der Kirche, wenn alle zu Tisch sind und niemand einen Arzt braucht? Mit der alten Laborausstattung? Nein, das wird niemals wahr!« Er boxte sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Niemals!«, spuckte er dann zornig.
Beide schwiegen lang, hingen ihren Gedanken nach.
Als Theo die Wortlosigkeit nicht mehr ertragen konnte, wollte er wissen: »Und wenn du Politik studieren dürftest?«
Ludwig war noch immer blass vor Zorn, hatte seine Stimme aber wieder unter Kontrolle. »Politik hätte mich wirklich interessiert. Was passiert, wenn? Das war ja nun schließlich die entscheidende Frage im Krieg – es hätte vielleicht nicht soweit kommen müssen. Um Verwicklungen zu erkennen und rechtzeitig reagieren zu können, brauchen Regierungen besonders fähige Menschen, die in aller