Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-Poliquin

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Das Gewicht von Schnee - Christian Guay-Poliquin

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auf, das Land zu begraben. Die Welt steht still. Wartet auf den Frühling.

      Von hier gibt es keinen Ausweg. Die Berge zerschneiden den Horizont, der Wald umzingelt uns von allen Seiten, das Weiß sticht ins Auge.

      Sieh genauer hin, sagt Matthias.

      Ich mustere den Pfahl, den Matthias auf der Lichtung in den Boden getrieben hat. Mir fallen feine Kerben auf.

      Eine Messlatte. Damit wir wissen, wie hoch der Schnee ist, sagt er triumphierend.

      Durchs Fernrohr sehe ich, dass der Schnee bereits die einundvierzig Zentimeter erreicht hat. Eine Weile betrachte ich die weiße Landschaft, lasse mich dann zurück aufs Bett sinken, schließe die Augen.

      Wunderbar, denke ich. Jetzt können wir unsere Misere messen.

      Zweiundvierzig

      Matthias backt Schwarzbrot. Steinharte Fladen aus Buchweizenmehl und Melasse. Er sagt, das mache satt und sei nahrhaft. Die beste Art, unsere Vorräte einzuteilen. Bis zur nächsten Lieferung sei es noch eine Weile hin.

      Wie ein alter Schamane mischt, knetet und walzt er den Teig, mit erstaunlich sparsamen Bewegungen. Dann klopft er seine Kleider ab, in einer Wolke aus Mehlstaub, und backt mehrere Brote direkt auf dem Ofen.

      Das Wetter hat sich aufgeklart. Ich beobachte das Dorf hinter den Bäumen, die Häuser unten am Hang. In den meisten rührt sich kein Leben, doch aus einigen Schornsteinen dringt dichter Rauch. Graue Säulen steigen senkrecht zum Himmel, als weigerten sie sich, mit der unendlichen Weite zu verschmelzen. Zwölf an der Zahl. Mit unserer dreizehn. Durch das Fernrohr wirkt das Dorf ganz nah, aber das ist eine Täuschung. Zu Fuß dauert der Weg über eine Stunde. Und ich kann nicht mal aus dem Bett aufstehen.

      Ich glaube, die Wintersonnenwende liegt bereits hinter uns. Zwar zeigt sich die Sonne nur kurz am Himmel, aber kaum merklich werden die Tage länger. Auch Silvester ist bestimmt längst gewesen. Genau weiß ich es nicht. Es ist auch nicht mehr wichtig. Mein Zeitgefühl habe ich schon lange verloren. Das Interesse an Gesprächen auch. Niemand widersteht dem Schweigen, vor allem niemand, der mit einem doppelten Beinbruch ans Bett gefesselt ist, im tiefsten Winter, in einem Dorf ohne Strom.

      Noch haben wir einen guten Holzvorrat, aber er wird schnell kleiner. In unserer Veranda zieht es durch alle Löcher und Ritzen, und Matthias muss mehrmals in der Nacht aufstehen, um Holz nachzulegen. Wenn Wind weht, hat die Kälte uns fest im Griff.

      In ein paar Tagen bekommen wir Nachschub an Holz und Lebensmitteln. Damit tröste ich mich. Ich habe zwar einen schrecklichen Autounfall überlebt, bin ansonsten aber ganz und gar hilflos.

      Zweiundvierzig

      Eine Mondsichel wiegt den Himmel in den Schlaf. Der Schnee hat eine Kruste gebildet. Die Nacht spiegelt sich darin, ein glattes, schillerndes Meer.

      In der Veranda erhellt die Öllampe die Wände, zeichnet goldene Schatten. Matthias kommt auf mich zu, mit einer Schüssel Suppe und einem Stück Schwarzbrot. Wir essen nichts anderes. Jeder Rest Suppe ist die Grundlage für die Suppe des nächsten Tags. Sobald wir den Topfboden erreichen, gibt Matthias Wasser hinzu und alles, was ihm in die Finger kommt. Wenn wir Fleisch haben, kocht er die Knochen und das Fett aus. Gemüse, altes Brot, alles wandert in die Suppe. Jeden Tag, zu jeder Mahlzeit, löffeln wir unsere Endlossuppe.

      Während sich Matthias an den Tisch setzt und still die Hände zum Gebet faltet, esse ich bereits los. Oft bin ich fertig, bevor er überhaupt zum Löffel greift.

      Anfangs musste Matthias mich fast zum Essen zwingen, aber das war nötig, damit ich kräftiger wurde und wieder etwas Farbe bekam. Er half mir, mich im Bett aufzurichten, und fütterte mich mit einem Löffel wie ein kleines Kind. Heute kann ich mich selbst aufsetzen und mir ein Kissen in den Rücken schieben. Die Schmerzen und die Erschöpfung sind immer noch da, aber ich habe wieder Appetit. Wenn Matthias ein paar Liter Milch bekommt, macht er mit dem Lab, das er im Stall in der Melkkammer gefunden hat, Käse. Manchmal gibt er den Leuten im Dorf etwas davon ab, aber oft ist der Käse so lecker, dass wir ihn in wenigen Tagen selbst aufessen, direkt aus dem Seihtuch, in dem er zum Abtropfen hängt.

      Die Wundheilung kostet mich große Kraft. Das Einschätzen, wie viel Zeit vergeht, auch. Vielleicht sollte ich es wie Matthias machen und einfach vor oder nach dem Schnee sagen. Aber das wäre zu einfach.

      Seit drei Monaten haben wir keinen Strom mehr. Man hat mir erzählt, dass der Strom im Dorf vorher immer mal wieder ausgefallen sei. Nichts Beunruhigendes. Die Leute hatten sich fast daran gewöhnt. Sie wussten, nach ein paar Stunden kommt der Strom wieder. Bis er eines Morgens nicht mehr wiederkam. Weder hier noch anderswo. Das war im Sommer. Die Leute nahmen es leicht. Doch als es Herbst wurde, begriffen sie, dass sie Vorbereitungen treffen mussten. Als wäre das nicht absehbar gewesen. Jetzt ist es Winter, und alle müssen sich mit der Lage abfinden. In den Häusern versammelt man sich um die Öfen und um ein paar rußige Töpfe.

      Matthias leert seine Schüssel, schiebt sie zur Tischmitte.

      Einen Moment lang passiert nichts. Ich mag diese Stille nach dem Essen.

      Leider hält sie nie lang an.

      Matthias steht auf, räumt die Teller ab, spült sie in der Plastikwanne. Dann packt er die Brotfladen in eine Tüte, nimmt die Kleider von der Leine über dem Ofen, faltet sie, stellt den Docht der Öllampe höher, holt das Verbandszeug, rückt einen Stuhl heran.

      Zweiundvierzig

      Matthias räuspert sich, als wollte er mir etwas vorlesen. Aber er sagt nichts, lässt nur die Halswirbel knacken, einmal rechts, einmal links, und zieht die Patchworkdecke von meinen Beinen.

      Ich wende den Kopf ab. Matthias glaubt vielleicht, ich schaue nach draußen, aber ich beobachte ihn in der dunklen Scheibe. Er löst die Gurte der rechten Schiene. Schiebt eine Hand unter meine Ferse, hebt das Bein an.

      Mein Puls beginnt zu rasen. Der Schmerz zeigt seine Krallen wie ein wildes Tier und wirft mich nieder.

      Geduldig rollt Matthias die Mullbandagen ab. Seine Bewegungen sind langsam, methodisch. Bei der letzten Schicht klebt der Stoff an meiner nässenden Haut. Matthias schneidet den Verband mit der Schere ab und entfernt den Rest mit einem wohlkalkulierten Ruck. Ich atme scharf ein und konzentriere mich auf die Luft in meinem Brustkorb. Matthias lehnt sich zurück. Wahrscheinlich begutachtet er die Entzündung, die Schwellung, den Bruch.

      Bald können wir die Fäden ziehen, sagt er, während er die Wunde desinfiziert.

      Das Brennen ist schier unerträglich. Als würde das Fleisch an meinen Knochen schmelzen.

      Halt still!, donnert Matthias. Lass mich machen.

      Ich wende den Blick ab, starre zu den beiden Türen am anderen Ende des Raums, der Tür nach draußen und der, die nach drüben führt. Zum schweren Ofen, zum Krimskrams auf den Regalen. Zur Decke mit ihren grob gehauenen Balken. Von den Balken hängen zwei nackte Glühbirnen wie Dinosaurierskelette in einem Museum.

      Matthias holt eine Salbentube aus dem Verbandskasten und versucht, die Aufschrift zu entziffern. Seufzend zieht er seine Brille aus der Hemdtasche, setzt sie auf.

      Die sollte helfen.

      Bevor er den Verband erneuert, streicht er meine Wunde dick ein. Die Salbe ist kühl. Einen Moment lang bringt sie Erleichterung.

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