Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-Poliquin

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Das Gewicht von Schnee - Christian Guay-Poliquin

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allein. Matthias ist mit seinen Schneeschuhen nach draußen gegangen. Ich ziehe an der abgenutzten Patchworkdecke, die meine Füße bedeckt. Meine kilometerweit entfernten Zehen am Fußende sind lila, aber sie wackeln. Wegen der Schienen sind sie das Einzige, das ich bewegen kann.

      Der Schmerz quält mich immer noch, aber wenigstens sind die Fieberschübe vorbei. Ich schrecke nicht mehr keuchend hoch und frage mich, wo ich bin. Mittlerweile kenne ich den Raum, den Blick aus dem Fenster neben meinem Bett. Matthias’ Gesicht. Wenn ich die Augen öffne, weiß ich, wo ich bin, wer ich bin und was mich erwartet.

      Kurz nach meiner Ankunft hier bekam ich Fieber und begann mit den Zähnen zu klappern. Matthias wachte an meinem Bett. Er wechselte meine Verbände und die schweißgetränkten Laken. Er trocknete mir das Gesicht und den Hals und machte mir kalte Umschläge. Er redete auch mit mir. Ich habe keine Ahnung, was er da erzählte, einen Haufen Geschichten, alle möglichen Abenteuer, es hörte sich an wie die Odyssee eines Mannes, der nach zwanzig Jahren in die Heimat zurückkehren will, aber von einem rachsüchtigen Gott daran gehindert wird. Im Morgengrauen verstummte er und legte sich zum Schlafen auf das Sofa. Wenn er wenig später wieder aufstand, hob er meinen Kopf an, gab mir etwas zu trinken und verabreichte mir mehrere Tabletten. In den verschiedensten Farben. Tagsüber kämpfte ich gegen einen unsichtbaren Abgrund an. Nachts schlief ich mit offenen Augen. Wie ein Toter.

      Meistens träumte ich, dass ich vor etwas wegrenne. So schnell ich kann, durch die Gänge eines Labyrinths. Egal, wohin ich abbiege, immer ist da ein roter Faden auf dem Boden. Eine Bestie verfolgt mich. Ich kann sie nicht sehen, aber sie ist da, hinter mir. Ich höre ihren keuchenden Atem und das Trommeln ihrer Schritte. Sie ist mir dicht auf den Fersen. Schnappt mit ihren Fängen nach mir, will mir die Beine ausreißen. Ich renne weiter und weiter. Ich träume, ohne mich umzudrehen.

      Als mein Fieber weiter stieg, muss ich das Bewusstsein verloren haben, denn ich erinnere mich, dass ich irgendwann keuchend in Matthias’ Arm aufwachte. Wir befanden uns draußen, im strömenden Regen. Mein Körper glühte, und der kalte Regen half mir, zu Sinnen zu kommen, wie ein Eisbad. Nachdem ich wieder bei mir war, hob Matthias den Blick zum Himmel, als wäre auch er errettet worden. Der Regen lief ihm übers Gesicht, das Haar klebte ihm an der Stirn. Dann trug er mich nach drinnen. Mit Müh und Not. Wir waren klatschnass, und ich konnte mich kaum an seinem Hals festhalten. Als er mich aufs Bett legte, hatte ich das Gefühl, in der Matratze zu versinken, so schwach war ich. Und Matthias musste sich auf seine Knie stützen, um wieder zu Atem zu kommen.

      In den nächsten Tagen ging das Fieber langsam zurück, mein Zustand stabilisierte sich. Eine Zeit lang spürte ich nichts mehr, abgesehen von einem leichten Kribbeln in den Beinen. Dann aber kehrte der Schmerz zurück, stechend, mit voller Wucht. Als bohrten sich Tausende Nägel von innen in meine Haut, in meine Wirbelsäule, in meine Handflächen, in meine Füße. Als wäre ich am Bett festgenagelt. Ein schwarzer, kalter Schmerz, der mich fürchten ließ, ich könnte vielleicht nie wieder laufen.

      Die Tabletten, die Matthias mir gab, dämpften den Schmerz, aber sie wirkten immer nur für wenige Stunden. Manchmal massierte Matthias mir die Beine. Er setzte sich auf die Bettkante, wickelte den blutdurchtränkten Mull ab, säuberte meine Wunden und bearbeitete meine Oberschenkel, Waden und Füße. Ich wurde nicht gern wie sein Teig geknetet. Aber er achtete immer sorgfältig darauf, meinen Wunden nicht zu nah zu kommen. Mit jeder Behandlung ging die Schwellung zurück, und ich fror nicht mehr ganz so sehr.

      Ich wackle wieder mit den Zehen am anderen Ende meines Körpers. Ich glaube, meine Brüche wachsen langsam zusammen, die Wunden heilen, das Penicillin tut seine Arbeit. Aber der Schmerz ist hartnäckig, ausdauernd, unerbittlich. Mit einem Ruck ziehe ich die Decke wieder über meine Beine. Die Schienen bestehen aus Holzlatten und angenagelten alten Gürteln. An der einen Latte sind Sägespuren zu sehen. An der anderen der Abdruck eines Scharniers, das mit einem Hammer abgeschlagen worden ist. Man könnte mich für ein Ungeheuer halten, aus Holzlatten, Nägeln und Fleischfetzen. Aber die Schienen sind besser als nichts.

      Das nächste Krankenhaus ist weit weg. Unerreichbar.

      Siebenundvierzig

      Es ist später Nachmittag. Als er von seinem kurzen Ausflug nach draußen zurück war, hat Matthias das Feuer geschürt und ist dann nach drüben gegangen, um sich ein Buch zu holen. Matthias liest viel, und da ich keinerlei Interesse an den Büchern habe, die er mir neben das Bett legt, erzählt er mir viele Geschichten. Wie die von den beiden Landstreichern, die neben einem Baum miteinander reden und auf jemanden warten, der nie kommt.

      Jedes Mal, wenn er nach drüben geht, dringt ein Schwall kalter Luft durch die offene Tür. Jedes Mal reißt mich die Kälte aus meiner Starre, und ich hebe den Kopf, um kurz einen Blick in das leere Haus zu werfen. Aber ich kann nicht viel erkennen, nur einen dunklen Flur und an seinem Ende ein schwaches Licht.

      Wir leben im Anbau eines großen Hauses. In einer Sommerküche mit einem Holzofen und einem riesigen Fenster nach Süden. Bei schönem Wetter wärmt die Sonne den Raum. Doch sobald sie hinter dem Horizont verschwindet, müssen wir den Ofen anheizen. Trotz einiger Wasserspuren an der Decke ist die Veranda solide und schön gebaut. Es gibt geschnitzte Zierleisten. Der Boden besteht aus Dielen. An den Wänden sieht man hellere Stellen, an denen früher Bilder gehangen haben.

      In die Mitte der Veranda ist eine Klappe in den Boden eingelassen. Sie führt in einen Kriechkeller, den Matthias als Kühlschrank benutzt. Dort lagert er das Fleisch, das Gemüse und alles, was kühl bleiben und vor dem Frost geschützt werden soll.

      Die Decke ruht auf dicken Querbalken mit einem leichten Gefälle. Ich stelle mir das Trommeln des Sommerregens auf dem Blechdach vor. Wie in der Schwerelosigkeit einer langen Fahrt mit dem Auto. Doch zu dieser Jahreszeit türmt sich dort oben lautlos der Schnee. Wenn ich die Ohren spitze, höre ich über mir die Balken bedrohlich knarzen.

      Matthias erscheint in der Tür. Er steht da wie ein Entdecker am Bug eines Schiffs.

      Rate mal, was ich gefunden habe, sagt er fröhlich.

      Einen Moment lang bleibt die Tür offen. Der halbdunkle Gang endet offenbar in einem großen Saal. Ich stelle mir ein Haus mit hohen Decken, großen Räumen und unzähligen Fluren vor. Eine Art Labyrinth, in dem manche Zimmer miteinander verbunden, andere aber ohne Ausweg sind. Eine breite Treppe führt hinauf in den ersten Stock, über dem Esszimmertisch hängt ein Kronleuchter, an den Wänden stehen imposante Bücherregale, und im Wohnzimmer gibt es einen gemauerten Kamin. Eins ist sicher, das Haus wäre für uns beide viel zu groß. Wir würden es nicht warm bekommen. Oder wir würden unseren Holzvorrat innerhalb weniger Wochen verheizen. Und wenn alle Möbel verbrannt wären, würden wir erfrieren.

      Na? Was glaubst du, was es ist?, hakt Matthias nach.

      Er sieht mich an und wartet auf eine Antwort, die nicht kommt.

      Ein Schachspiel, sagt er schließlich seufzend. Ich dachte, ich würde dir damit eine Freude machen.

      Mit der Hüfte gibt er der Tür einen Stoß, und sie fällt ins Schloss. Das Labyrinth auf der anderen Seite verschwindet so plötzlich, wie es sich aufgetan hat, und wir sind wieder Gefangene der Veranda.

      Sechsundfünfzig

      Am Abend frischt der Wind auf. Er rüttelt an der Veranda. Es schneit. Ich höre die Schneeflocken gegen die Fensterscheibe prallen wie von der Spiegelung getäuschte Vögel.

      In der schwarzen Scheibe sehe ich mein Gesicht. Ein großer dunkler Fleck, eingesunkene Augen, fettiges Haar, struppiger Bart. Unter der Bettdecke das flache Relief meines mageren, nutzlosen Körpers.

      Matthias sitzt im Schaukelstuhl. Er repariert den

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