Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-Poliquin
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Halt durch, sagt er, halt durch. Jetzt kommt das andere Bein dran.
Fünfundvierzig
Über Nacht muss es geschneit haben, doch heute Morgen ist der Himmel hart und blau. Die Eiszapfen an der Traufe glitzern.
Auf dem Ofen steht ein großer Topf voll Schnee. Im Herbst hat Matthias das Wasser direkt aus dem Bach geschöpft, der zum Dorf hinunterfließt. Es war kristallklar und schmeckte nach Kieseln und Wurzeln. Manchmal musste er morgens eine Eisschicht entfernen, um den Eimer zu füllen. Anfangs ließ sie sich noch leicht zerbrechen, später musste er einen Ast zu Hilfe nehmen, noch später ein Beil. Eines Tages war ihm der Aufwand zu groß, seitdem schmilzt er Schnee. Das Wasser schmeckt anders, aber ich kann mich nicht beschweren. Matthias kümmert sich um alles. Er heizt den Ofen, kocht das Essen, leert den Kloeimer. Er trifft alle Entscheidungen, er trägt die Verantwortung. Er ist der Herr über Zeit und Raum.
Ich hingegen bin nutzlos, schwach und kann mich kaum bewegen. Mir fehlt sogar die Kraft, zu reden, mich zu unterhalten. Und auch die Lust. Stattdessen brüte ich stumm vor mich hin. Anfangs verstand Matthias mein Schweigen nicht. Mit der Zeit hat er sich offenbar daran gewöhnt.
Ich weiß nicht genau, was seit dem Unfall alles passiert ist. Vor Schmerzen, Fieber und Erschöpfung kommt es mir vor, als hätte der Schnee in seiner Unrast die gewohnte Länge der Tage und Wochen aufgehoben. Alles scheint mir sehr schnell gegangen zu sein. Der Unfall, die Patrouille, die Operation, und dann war ich plötzlich hier, bei Matthias. Ich weiß, dass er mich nicht haben wollte. Dass meine Anwesenheit ihn stört, ihm ungelegen kommt. Dass er andere Pläne hatte. Seit dem Stromausfall läuft nichts, wie er sich das vorgestellt hat.
Als die Patrouille mich unter dem umgedrehten Auto fand, sahen die Männer gleich, wie schwer ich verletzt war. Sie dachten, sie könnten nichts mehr für mich tun. Meine Beine waren bei dem Aufprall zerquetscht worden, und ich hatte viel Blut verloren. Zum Glück leuchteten sie mir ins Gesicht, und einer der Männer meinte, mich zu erkennen. Er überredete die anderen, mich ins Dorf zu tragen.
Es war ein Regentag. Wie aus Kübeln ergoss sich das Wasser auf den Wald. Ich weiß noch, dass die Männer, die mich trugen, durch tiefen Schlamm waten mussten. Im Dorf gab es keinen Arzt. Nur eine Tierärztin und einen Apotheker. Seit dem Stromausfall waren sie es, die Kranke und Verletzte behandelten. Sie kümmerten sich auch um die schweren Fälle, bei denen wenig Hoffnung bestand.
Ich erwachte in einem dunklen Raum. Meine Beine steckten in dicken Verbänden, und ich war mit Handschellen ans Bett gefesselt. Das Fenster hatte man zugenagelt, nur durch die Ritzen fiel etwas Licht. Immer wenn ich den Kopf hob, um zu verstehen, wo ich war, durchfuhr mich ein stechender Schmerz.
In regelmäßigen Abständen kam jemand an mein Bett. Brachte mir was zu essen. Gab mir Tabletten. Stellte Fragen. Wie ich hieß? Wo ich herkam? Wie es zu dem Unfall gekommen war? Ich hatte Schmerzen, schlimme Schmerzen, und meine Welt bestand nur noch aus Schatten, die sich über mich beugten wie über einen Brunnenschacht. Wieder und wieder dieselben Fragen. Doch obwohl ich nach Leibeskräften schrie, schien keiner meine Antworten zu hören. Wahrscheinlich überlegten sie hin und her, ob sie mein Leiden beenden oder versuchen sollten, mich gesundzupflegen.
Wenn sie mich dann endlich allein ließen, spitzte ich die Ohren. Kommen und Gehen im Nebenzimmer. Manchmal hörte ich laute Stimmen, konnte den Gesprächen folgen. Manchmal flüsterten sie, und ich verstand kein Wort.
Der Unfall war heftig gewesen. Ich war verwirrt, träumte von meinem Auto. Suchte nach meinem Vater. Meine Erinnerungen gerieten durcheinander. Ständig wiederholten sich dieselben Szenen vor meinem inneren Auge. Die Tage und Nächte am Steuer. Der Stromausfall, die geplünderten Tankstellen, die bewaffneten Gruppen am Straßenrand, die Panik in den Städten. Und dann plötzlich, wenige Kilometer vor dem Dorf, im müden Licht der Scheinwerfer, zwei zum Himmel erhobene Arme. Reifenquietschen. Ich reiße das Lenkrad herum. Ein dumpfer Aufprall. Blut. Das Bersten der Windschutzscheibe. Überschläge. Mein Körper wird aus dem Wagen geschleudert. Dann das Gewicht des umgedrehten Autos auf meinen Beinen.
Ich war vor zehn Jahren aus dem Dorf weggegangen. Hatte seitdem so gut wie nichts von mir hören lassen. Ich hatte die Vergangenheit begraben und nie hierhin zurückgewollt. Trotzdem glaubte einer der Patrouillenmänner zu wissen, wer ich war, und bestand darauf, dass man mich versorgte. Seine Stimme drang laut und klar aus dem Nebenzimmer.
Schluss jetzt. Wir können ihn nicht einfach sterben lassen. Erkennt ihr ihn nicht? Das ist der Sohn vom Automechaniker. War lange nicht mehr hier. Er steht unter Schock, gebt ihm eine Chance. Sein Vater ist tot, aber er hat noch Familie im Dorf. Seine Onkel und Tanten wohnen oben am Weg zur Mine. Ich gehe sie holen.
Meine Onkel und Tanten kamen. Erst glaubte ich, Geister zu sehen, doch dann hörte ich ihre Stimmen und mir schossen Tränen in die Augen.
Ja, bestätigten die Onkel, entsetzt über meinen Zustand, das ist er. Die Tanten ergriffen meine Hände und versuchten zu verstehen, was passiert war. Ich war so glücklich, sie zu sehen, dass ich kein Wort herausbrachte.
Die Handschellen, sagten meine Tanten, nehmt ihm die Handschellen ab. Sofort.
Man erklärte ihnen, dass mich die Nachricht vom Tod meines Vaters sehr aufgeregt habe und ich wegen meiner Verletzungen stillliegen musste. Meine Onkel und Tanten verschwanden im Nebenzimmer. Sie redeten über mich und meine Situation, das verstand ich, hörte aber nicht genau, was sie sagten. Die Stimmen klangen ernst.
Wenig später kamen die Tierärztin und der Apotheker herein. Sie traten an mein Bett. Die Tierärztin schaltete ihre Stirnlampe ein und schnitt meine Verbände auf. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel, ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Als sie die Schwere meiner Verletzungen sah, verhärteten sich ihre Züge. Sie wandte sich fragend an den Apotheker. Der nickte. Während die Tierärztin einen Mundschutz anlegte und sich Gummihandschuhe überzog, sah ich an ihrem Blick, dass sie mich ebenfalls erkannt hatte. Der Apotheker hielt mir einen Schwamm vor Mund und Nase, und die Tierärztin wies mich an, bis zehn zu zählen. Ihre Stimme. Ihre Stimme weckte Erinnerungen. Ja, ich kannte diese Stimme, aber ein Name fiel mir nicht ein. Der Strahl ihrer Lampe glitt durch den Raum. Dann wurde alles schwarz.
Als ich wieder zu mir kam, wusste ich nicht, wo ich war. Zum Glück waren meine Tanten da. Ich hörte sie miteinander flüstern. Ich hob den Kopf und sah, dass meine Beine mit Schienen fixiert waren. Sobald meine Tanten merkten, dass ich mich regte, kamen sie an mein Bett.
Mach dir keine Sorgen. Die Operation ist gut verlaufen. Das wird schon. Du schaffst das. Hier, trink was. Ruh dich aus. Du musst wieder zu Kräften kommen. Ja, ruh dich aus.
Ich war unendlich müde und dämmerte bald wieder weg. Träumte, ich würde verfolgt, träumte von einer zähnefletschenden Bestie, von einem Labyrinth.
Am nächsten oder übernächsten Tag, ich weiß es nicht genau, besuchte mich der Patrouillenmann, der mich erkannt hatte. Er nahm mir auch endlich die Handschellen ab. Und er brachte mir Wasser, ein Stück Brot, etwas Thunfisch aus der Dose. Dabei stellte er mir erneut eine Menge Fragen. Als ich nicht antwortete, schwieg er einen Moment und änderte dann seine Strategie.
Weißt du, auch wenn der Strom irgendwann wiederkommt, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Alles, was seit dem Stromausfall passiert ist, hat unser Leben für immer verändert. Wir kommen vielleicht besser klar als die Leute in den Städten, aber leicht ist es auch hier nicht. Am Anfang haben sich alle zusammengerissen, aber nach einer