Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-Poliquin
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Читать онлайн книгу Das Gewicht von Schnee - Christian Guay-Poliquin страница 4
Die Tierärztin und der Apotheker kamen ins Zimmer und unterbrachen den Patrouillenmann.
Wie geht’s ihm?
Ganz gut.
Während der Apotheker mir einen ganzen Tablettencocktail verabreichte, untersuchte die Tierärztin meine Beine und maß meine Temperatur.
Kein Fieber, sagte sie.
Aber nur, weil er was dagegen bekommt, entgegnete der Apotheker.
Die Tierärztin beugte sich über mich und erklärte, dass meine Knochen mehrfach gebrochen seien. Zwar habe sie schon ähnliche Fälle behandelt, aber nur bei Hunden, Kühen und Pferden.
Ich lächelte sie an.
Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
Du schaffst das.
Die beiden verschwanden mit dem Patrouillenmann im Nebenzimmer. Die Stimme des Apothekers war durch die Wand zu hören.
Er hat den Unfall überlebt und die Operation gut überstanden, aber seine Wunden werden sich entzünden. Das ist leider unvermeidlich. Er wird Antibiotika und Schmerzmittel brauchen, und unsere Vorräte sind begrenzt.
Sie überlegten, wer mich pflegen könnte. Meine Onkel und Tanten wahrscheinlich. Aber der Stromausfall überforderte sie alle. Es gab so viel zu tun. Wer hatte schon Zeit, sich um einen Schwerverletzten zu kümmern? Seine Wunden versorgen, ihn bekochen, ihn waschen?
Die Stimmen wurden leiser, ich verlor den Faden des Gesprächs.
Ein paar Tage später waren meine Beine geschwollen und die Wunden so empfindlich, dass ich kaum atmen konnte. Ich hatte Schüttelfrost und schwitzte. Nichts konnte ich ohne Hilfe tun. Die Leute wechselten sich an meinem Bett ab. Sie hielten sich die Ohren zu, um mein fiebriges Stöhnen und Wimmern nicht zu hören.
Zweimal am Tag kam die Tierärztin und gab mir eine Spritze. Dann hatte ich ein paar Stunden Ruhe, bevor der Schmerz mir wieder den Blick verschleierte.
Ich hab’s gewusst, seufzte der Apotheker, er wird all unsere Medikamente aufbrauchen.
Dank der Spritzen und Tabletten konnte ich schlafen. Doch beim Aufwachen wusste ich nie, ob ich wenige Minuten, ein paar Stunden oder mehrere Tage geschlafen hatte. Oft träumte ich, dass mich jemand zu Boden drückte und mir die Beine abhackte. Mit einer Axt. Das war kein schlimmer Traum, ich fühlte mich befreit.
Meine Onkel und Tanten kamen mich oft besuchen. Auch wenn ich alle um mich herum nur als Schemen wahrnahm, hörte ich sie reden, Geschichten und Witze erzählen. Eines Tages erklärten sie, dass sie nicht länger warten könnten. Die Jagdsaison hatte begonnen. Mehrere Familien waren schon in den Wald gegangen. Es gab immer noch keinen Strom, und sie mussten Vorräte für den Winter anlegen.
Wir ziehen in die Jagdhütte, verkündeten sie. In ein paar Wochen sind wir zurück, mit Fleisch, viel Fleisch. Wir hätten dich gern mitgenommen, aber das geht leider nicht. Mach dir keine Sorgen, du bist hier in guten Händen. Sie haben uns versprochen, dass sie sich gut um dich kümmern. Konzentrier du dich darauf, wieder gesund zu werden.
Sie verabschiedeten sich reihum von mir und verließen das Zimmer. Am liebsten hätte ich sie zurückgehalten.
Später kamen einige Leute zu mir. Der Patrouillenmann, die Tierärztin und der Apotheker waren auch dabei. Jemand ergriff das Wort und sagte, ich könne auf keinen Fall länger hierbleiben. Ich spürte ihre Blicke über die Wände huschen, zu Boden fallen, in den Ritzen verschwinden. Niemand wollte eine zusätzliche Bürde. Vielleicht hätte man mich besser unter dem Auto liegen gelassen. Die Tierärztin brach das Schweigen und sagte, sie könne sich bis zur Rückkehr meiner Verwandten um mich kümmern. Der Apotheker fiel ihr sofort ins Wort.
Wie stellst du dir das vor? Er kann nicht zu uns. Wir haben genug für ihn getan. Wir haben noch andere Patienten.
Der Patrouillenmann trat vor, als wollte er einen Gegenvorschlag machen. Sagte aber nichts.
Ich kann die Sache beenden, fuhr der Apotheker fort. Das wäre vielleicht für alle das Beste. Ihr seht doch, wie er leidet.
Schweigend suchte die Tierärztin den Blick des Patrouillenmanns, der immer noch mitten im Raum stand. Und daraufhin, glaube ich, kam ihnen die Idee mit dem Alten in dem Haus oben am Waldrand.
Ihr wisst schon, der Alte, der im Frühsommer bei uns aufgetaucht ist. Er hatte Probleme mit seinem Auto und war auf der Suche nach einer Werkstatt. Dann fiel der Strom aus, und er saß hier fest. Er ist in das leere Haus oben am Waldrand gezogen. Ab und zu, wenn er runter ins Dorf kommt, sage er, er müsse zurück in die Stadt. Seine Nachbarin komme ihn abholen. Aber sie ist nie aufgetaucht. Niemand glaubt ihm so richtig. Jedenfalls nimmt er die Lebensmittel, die wir ihm zuteilen, immer gern. Neulich bin ich ihm vor der Kirche begegnet. Wir haben uns kurz unterhalten. Sicher, er ist alt. Aber er wirkt kräftig und erstaunlich klar im Kopf.
Der?, fragte der Apotheker erstaunt. Vor einiger Zeit wollte der einen Transporter stehlen. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich an der Tür zu schaffen machte. Er hat so getan, als ob nichts wäre. Ziemlich durchtrieben, der Alte. Aber warum nicht? Soll er sich um den Verletzten kümmern.
Fünfundvierzig
Heute Morgen macht Matthias wie immer seine Übungen. Mit der Konzentration eines Hexenmeisters vollführt er eine Abfolge ruckartiger Bewegungen und ausladender Dehnungen. Manchmal verharrt er mehrere Minuten in einer bestimmten Position. Seine Ruhe ist kraftvoll, tief. Aber meist reiht er unter lautem Atmen eine Bewegung an die andere. Er beugt sich vor, richtet sich auf, verdreht sich. Seine Gesten sind groß und geschmeidig. Im Ausatmen tönt die Kraft seines Zwerchfells. Er sieht aus, als kämpfte er in Zeitlupe, gegen einen Fremden, einen Bären, ein Monster. Irgendwann, unvermittelt, beendet er die Übungen, richtet sich triumphierend auf, beginnt den Tag.
Es ist schon seit einer ganzen Weile hell, aber die Sonne lugt kaum über die Baumwipfel. Nur hier und da dringen Lichtstrahlen durchs Unterholz. Mit dem Fernrohr suche ich die Umgebung ab. Im Schnee gibt es, abgesehen von Matthias schweren Abdrücken und den Hüpfern eines Eichhörnchens, keine Spuren. Die anderen Tiere haben sich in den Wald zurückgezogen. Führen dort, abseits der menschlichen Blicke, ihren Überlebenskampf.
Matthias kocht Kaffee. Weil das Pulver langsam zur Neige geht, mischt er unter jeden Löffel frischen Kaffee zwei Löffel Kaffeesatz.
Als man mich hierhergebracht hat, war er auch gerade dabei, Kaffee zu kochen. Meine Erinnerung an den Duft, der den Raum erfüllte, ist seltsam eindringlich. Als Matthias die Tür öffnete, stand vor ihm im Regen die Tierärztin. Dahinter der Patrouillenmann und der Apotheker mit der Bahre, auf der ich lag. Matthias bat sie alle herein und servierte Kaffee.
Das Fieber und die Antibiotika hatten mich in eine Lethargie versetzt. Kein Schlaf, aber ein Dämmerzustand irgendwo zwischen Wachtraum und Koma. Ich konnte mich nicht bewegen, nichts sagen, aber alles hören.
Wer ist das?, fragte Matthias und beugte sich über mich.
Der Sohn des Automechanikers, antwortete die Tierärztin. Er hatte einen Unfall.
Der Patrouillenmann sah sich im Raum um. Ein Holzofen, ein Schaukelstuhl,