Colombia Es Pasión!. Matt Rendell

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Colombia Es Pasión! - Matt Rendell страница 5

Colombia Es Pasión! - Matt  Rendell

Скачать книгу

der Krise.

      In Westeuropa und Nordamerika ist das Bauerntum längst weitgehend verschwunden. Tatsächlich können die drei großen dreiwöchigen Landesrundfahrten durch Italien, Frankreich und Spanien, mit ihren Endpunkten in Mailand, Paris und Madrid, als eine Feier ihres Verschwindens gelesen werden – jährliche Reenactments des Bevölkerungswandels von der ruralen zur urbanen Welt: eine Deklaration, in der Sprache des Sports, dass die Zukunft innerhalb von Stadtmauern liegt.

      Doch in Lateinamerika hat das Bauerntum überdauert und pflegt eine faszinierende hybride Identität. Natürlich büßten die früheren Bewohner unter europäischer Herrschaft ihr bestes Land, Wasserversorgung, soziale Komplexität und einen Großteil ihrer Bevölkerung ein. Dennoch war die spanische Krone bestrebt, die Unabhängigkeit der Konquistadoren einzuschränken: Historiker sprechen gar von einer zweiten Unterwerfung, die auf die erste folgte – die der Eroberer durch die Krone. Als ultimative Autorität über territoriale Aneignung und Besiedlung bestand der spanische Monarch außerdem darauf, die Kontrolle über den Schutz der indigenen Gemeinschaften und die Rettung ihrer Seelen zu wahren. Zu diesem Zweck gestattete er ihnen ein gewisses Maß an Autonomie. Dieser dubiose Schutz erlaubte ihnen, als Gemeinschaften zu überdauern, die zuweilen als campesindio bezeichnet wurden, einem Kofferwort aus campesino, Kleinbauer, und indio, dem irrtümlichen Produkt von Kolumbus’ geografischer Verirrung.

      Jahrhundertelang war die rurale Wirtschaft kontrolliert, ausgebeutet und von politischer Macht ausgeschlossen worden, aber erst heute ist ein Punkt erreicht, an dem sie unter dem Druck von Freihandelsabkommen und den numinosen Reizen von Smartphones und urbaner Konnektivität zusammenbricht und mit ihr bäuerliche Identitäten verloren gehen – nicht zuletzt, weil die Lebensweise dieser Kleinbauern in einer Nation, die als eine aufstrebende gelten möchte, in gewisser Weise eine Peinlichkeit darstellt. Und dies wiederum ist ein Abbild der ambivalenten Weise, in der Kolumbianer, auch die urbanen und gebildeten, nicht nur die rurale Welt der Kindheiten ihrer Radsporthelden wahrnehmen, sondern auch die Integration in die weitere Welt, die in ihren sportlichen Erfolgen zum Ausdruck kommt. So als würde das Land mit Macht wirtschaftliches Wachstum und Eingliederung in die internationale Ordnung anstreben, während es gleichzeitig ahnt, dass seine authentischsten Instinkte, sein besseres Selbst, in seinen ruralen Ursprüngen liegen.

      Und dennoch: Praktisch unbemerkt von der globalen Sportindustrie haben die Kinder des kolumbianischen Bauerntums im Radrennfahren eine Zuflucht vor ruralem Niedergang gefunden, einen Ort, an dem sie traditionelle bäuerliche Tugenden wie Geduld und Beharrlichkeit, klare Beobachtungsgabe und das stoische Erdulden körperlicher Schmerzen ausspielen können. Der Radsport hat ihnen erlaubt, den Wechsel ins Herz des globalen Kapitalismus zu vollziehen und sich ein beträchtliches Auskommen zu sichern, bezahlt aus den Marketingtöpfen von Unternehmen, die darauf aus sind, ihre Waren auf nationalen und transnationalen Märkten zu verkaufen. Manche dieser Fahrer haben den globalen Sport sogar gegen die Kräfte der Gleichmacherei gewendet und ihn genutzt, um eigene lokale Identitäten zu stärken. Einige von ihnen haben inzwischen sogar die Nummer des kolumbianischen Präsidenten auf Kurzwahl gespeichert. Und, in einem Land, das einen so jähen, desorientierenden Wandel erlebt hat, ist ihr Erfolg und ihr Status auch sehr eng mit kolumbianischer Nationenbildung verwoben. Das ist die Geschichte, die in diesem Buch erforscht wird.

      Natürlich ist es richtig, dass auch die Anpassung an die Höhe in der Geschichte des kolumbianischen Radsports eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben dürfte. In den 1950er Jahren stellte der kolumbianische Soziologe Orlando Fals Borda über eine bäuerliche Gemeinschaft aus dem Dorf Saucío, nördlich von Bogotá in einer Höhe von 2.689 Metern gelegen, fest:

      Der mestizo von Saucío hat einige besondere Eigenschaften. In einer dünnen Atmosphäre mit einem Sauerstoffpartialdruck von nur etwa 120 Millimetern lebend (im Vergleich zu 153 Millimetern auf Meereshöhe), ist er mit einer erstaunlichen Lungenkapazität ausgestattet. Männer haben eine breite Brust und breite Schultern, verfügen über ungewöhnliche körperliche Ausdauer und sind hervorragende Langstreckenläufer. Der Herzschlag ist tendenziell langsam (Bradykardie); der Mann aus Saucío weist viele der Eigenschaften eines Athleten auf.

      Es wäre durchaus möglich gewesen – und hätte vielleicht eher dem Zeitgeist entsprochen – in diesem Buch eine populärwissenschaftliche Fabel zu spinnen (sie hätte Das Muisca-Gen heißen können), die individuellen Sturm und Drang nur nebenbei zur Kenntnis nimmt und breitere kulturelle Faktoren gänzlich ignoriert, um stattdessen genetisches Erbe zu rühmen. Aber Das Muisca-Gen würde über all die hoch gelegenen Orte auf der ganzen Welt hinwegsehen, die eben keine herausragenden Radsportler hervorbringen, und auch den gegenwärtigen Wissensstand ignorieren, demzufolge in der Höhe zu schlafen zwar förderlich ist, man das Training aber besser auf Meereshöhe absolvieren sollte.

      Stattdessen setzt dieses Buch bei den Lebensgeschichten der Fahrer an. Sie im Kontext der Familien und Gemeinden zu sehen, die sie formten, während Handel, Wirtschaftswachstum, digitale Technologien und neue Formen von Identität ihr Land und die weitere Welt prägten, bedeutet, in jedem Einzelnen von ihnen ein Universum zu sehen – ein Universum, in dem man das »neue Kolumbien« aufsteigen sehen kann wie eine sprudelnde Quelle frischen Wassers, an dem dieses Land so überaus reich ist. Und dies alles zieht die Betrachtung weiterer Kontexte und größerer Zeiträume nach sich: die Geschichte des Bauerntums, Kolumbiens Beziehungen zu Europa und der weiteren Welt und die Ankunft der ersten Europäer im Hochland der Anden ein Jahrtausend – oder nur einen Moment – zuvor.

      1

      Kalte Energie

      Begleitet von Wetterleuchten hüllt die rasch hereinbrechende tropische Nacht die Berge von Iguaque ein, die sich wie eine gewaltige Woge über Vereda La Concepción erheben. Eine vereda ist ein Stück Ackerland, das unter mehreren Haushalten aufgeteilt ist. Die Nächte hier oben in der hoch gelegenen Provinz Boyacá sind kalt und 3.000 Meter über dem Meer seufzt man unwillkürlich nach jeder Bewegung.

      Die heraufziehende Dunkelheit verbirgt den See, dem, den Erzählkränzen der Muisca zufolge, in der Zeit der Ahnen die Urmutter Bachué entstieg, um die Erde zu bevölkern. Weiter unten liegen die Hänge, wo im März 1537 unserer Zeitrechnung – der andere relevante Kalender ging verloren – ein bärtiger Wanderer namens Gonzalo Jiménez de Quesada auftauchte, an der Spitze von 170 halb verhungerten Spaniern.

      Elf Monate zuvor waren die angehenden Konquistadoren von der Karibikküste aufgebrochen. 600 ihrer Männer waren auf dem Weg Erschöpfung und Krankheit erlegen, bevor die friedfertigen Muisca ihnen skeptisch ihren Beistand anboten. Doch diese Expedition war nur eine von acht, die dieses Hochland bis 1550 unterwerfen würden. Heute sind die einzigen verbliebenen Spuren der indigenen Kultur, die dem flüchtigen Beobachter offensichtlich sind, die Namen der Orte. Vereda La Concepción liegt an einem Hang rund sechs Kilometer vom Dorf Cómbita entfernt, was entweder »Hand des Tigers« oder »Stärke des Gipfels« bedeuten soll.

      Ich fragte Nairo Quintana nach ihnen: nach Bachué, der Urmutter, nach Bochica, dem Gesetzgeber, nach Chía, der Mondgöttin. Was bedeuten die alten überlieferten Geschichten in der heutigen Zeit?

      »Das ist, wer wir sind«, sagte er zu mir.

      Doch während die Jahrhunderte vergehen, scheinen wir immer weniger über die Muisca zu wissen. Der Letzte, der ihre Sprache beherrschte, soll um das Jahr 1870 herum gestorben sein, und ein Großteil dessen, was von ihr übrig geblieben ist, ist in zwei Dokumenten enthalten, die Ende des 18. Jahrhunderts aus der Neuen Welt nach Europa verschickt wurden, um in das Vergleichende Wörterbuch aller Sprachen und Dialekte von Katharina der Großen aufgenommen zu werden. Als er sie erhielt, beschloss Karl III., der angeordnet hatte, die indigenen Sprachen in seinem Herrschaftsgebiet auszumerzen, sie nicht nach Sankt Petersburg zu senden, sondern in seiner Privatbibliothek zu verwahren – mit anderen Worten: die Idiome, die in diesen unbezahlbaren Pergamenten beschrieben werden, sind dank ihres Sammlers ausgestorben.

      Nicht

Скачать книгу