Tausendfache Vergeltung. Frank Ebert
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Читать онлайн книгу Tausendfache Vergeltung - Frank Ebert страница 16
Al hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Seine Zahnschmerzen waren heftiger geworden. Stundenweise hatte er versucht, sein Leiden mit Schmerztabletten zu unterdrücken. Die Medikamente dämpften zwar den Schmerz, besiegten ihn aber nicht.
Bis um vier Uhr morgens hatte er gehofft, die Angelegenheit sei harmlos und die Schmerzen würden von selbst verschwinden. Aber als die Qualen statt nachzulassen immer unerträglicher wurden und er sie nicht mehr aushalten konnte, stand er auf. Zwei lange Stunden wanderte er ziellos durch seine Wohnung. Spülungen mit Ginseng-Schnaps, Zigaretten – nichts half. Als er im Badezimmer beiläufig in den Spiegel blickte, erschrak er vor sich selbst. Seine linke Wange war dick angeschwollen. Seinen Mund konnte er kaum noch öffnen. Aus dem Spiegel blickte nicht Al’s Ebenbild. Ein aufgedunsenes Monster gaffte ihn an.
Verschlafen stand Jung Sook hinter ihm.
„Du musst sofort zu einem Zahnarzt“, gähnte sie.
„Oh, ich habe dich geweckt.“
„Nicht so schlimm.“
„Kennst du einen?“
Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Notizbuch. Als sie die Nummer gefunden hatte, rief sie in der Praxis an.
„Der Anrufbeantworter. Die Praxis ist bis zum nächsten Wochenende geschlossen. In dringenden Fällen wird eine Frau Choi in der Zahnklinik empfohlen. Am besten, wir fahren gleich hin. Ich mache mich schnell zurecht.“
„Und ich hinterlasse auf dem Band in meinem Büro eine Nachricht. Die werden denken, dass ich heute Nacht abgestürzt bin …“
Eine knappe Stunde später lag Al auf dem Behandlungsstuhl. Das grelle Neonlicht der Operationsleuchte blendete ihn. Die Spritze, die Frau Choi injiziert hatte, musste bald wirken. Die junge Ärztin beugte sich über sein Gesicht.
„Sie sind in dieser Woche schon der dritte Weisheitszahn“, stellte sie nüchtern fest. „Gestern waren schon zwei vor Ihnen da, Herr Ventura. Aber Ihr Zahn sitzt auf Eiter, was die Behandlung nicht gerade erleichtert.“
„Ich bin froh, dass Sie mich behandeln“, brachte er gequält vor.
„Ja, es ist gut, dass Sie kommen. Sie hätten schon früher kommen sollen“, belehrte sie ihn.
Als sie mit einer Sonde prüfte, ob die Injektion wirkte, zuckte Al vor Schmerzen zusammen.
„Warten wir noch ein paar Minuten“, beruhigte sie ihn. „Erzählen Sie von sich.“
Währenddessen hielt sie seine Behandlungskarte in der Hand und las aufmerksam, was die Helferin notiert hatte.
„Sie sind Journalist, nicht wahr? Amerikaner.“
Al nickte. Als er sich aufsetzen wollte, um noch etwas zu sagen, drückte ihn die Ärztin auf den Behandlungsstuhl zurück.
„Schön liegen bleiben. Übrigens – Sie sprechen ausgezeichnet Koreanisch. Hier steht, Sie arbeiten für die koreanische Redaktion der Los Angeles News.“
„Meine Frau war Koreanerin.“
„Lebt sie hier?“
„Nein. Nein – sie ist gestorben, im vergangenen Jahr.“
„Ich glaube, wir können jetzt …“
Frau Choi prüfte erneut die Wirkung der Injektion. Al kniff nur noch leicht die Augenlider zusammen, als der Stahl der Sonde in sein Zahnfleisch drang.
Wenige Minuten später hielt Frau Choi Al’s letzten Weisheitszahn an einer Zange hoch und betrachtete den blutigen Gegenstand von allen Seiten. Al lag benebelt und erleichtert auf dem Behandlungsstuhl.
„Ein recht schönes Exemplar. Na, der wird Ihnen keinen Kummer mehr bereiten. Sie können sich jetzt entspannen.“
Der Zahn fiel klingend in eine Metallschale.
„Aber Sie müssen einiges für die Nachbehandlung tun.“
„Nachbehandlung?“, presste Al hervor, während er das blutstillende Watteröllchen auf seine Wunde biss.
„Zwei Stunden nicht essen und trinken. Auch nicht rauchen.“
„Ist das alles?“, seufzte Al.
„Hier, nehmen Sie diese Schmerztabletten mit – wenn Sie es gar nicht aushalten.“
Sie drückte ihm ein Röhrchen mit weißen Pillen in die Hand. Al spuckte den blutgetränkten Tampon in einen Abfallbehälter und verzog ob des faden, blutigen Geschmacks in seinem Mund das Gesicht.
„Es wird schnell aufhören zu bluten. In ein paar Tagen kommen Sie wieder und lassen die Wunde nachsehen. Die Schwester wird Ihnen einen Termin geben“, ordnete Frau Choi mit der Ärzten eigenen Bestimmtheit an.
Sie schickte sich an, ihre Hände zu waschen. Anschließend rieb sie sie mit einem Desinfektionsmittel ein.
Al vereinbarte bei der Schwester an der Rezeption einen Termin, zog seinen Mantel über und wollte gehen. Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Choi grell geschminkt war. In ihrem knappen Röckchen und den Stöckelschuhen unterschied sie sich mit ihren Mitte dreißig von den meisten anderen koreanischen Frauen nur durch den weißen Kittel. Irgendwie gefiel ihm ihre Erscheinung, nicht nur, weil sie ihn von der Wurzel seiner Qualen erlöst hatte.
Dabei ahnte er nicht im Geringsten, in wessen Fänge er geraten war. Die Zahnärztin Choi ging mit voller Hingabe einem perfekt getarnten Doppelleben nach. Den Großteil ihres Einkommens stellte sie einer Untergrundorganisation zur Verfügung, die sich mysteriös „Drachen des Morgens“ nannte. Für sich behielt sie nur, was sie unbedingt zum Leben benötigte. Stets war sie gewissenhaft darauf bedacht, unauffällig möglichst viele Einzelheiten und Informationen über ihre Kollegen, das Personal und über Patienten zu sammeln. Dabei kam es der alleinstehenden Medizinerin gelegen, dass sie manchmal noch am Abend schwierige zahntechnische Arbeiten zu erledigen hatte, zu denen sie Ruhe brauchte und bei denen sie von niemandem gestört wurde.
Wie an jedem Behandlungstag überprüfte Choi auch am Abend jenes Tages die Daten ihrer Patienten. Sie notierte alles, was sie von Al erfahren hatte, und kennzeichnete die Unterlagen als Neuzugang. Das Dossier verschwand in einem unverfänglichen Versteck. Einem Genossen ihrer „Drachen des Morgens“ könnte sie die Papiere am nächsten Tag während einer Zahnbehandlung heimlich zuspielen.
10 Seoul, Itaewon
Den Rest des Tages verbrachte Al in seiner Wohnung. Bis zum Spätnachmittag war die Schwellung seiner Wange dank mehrerer Eisbeutel erheblich zurückgegangen. Wo heute Morgen noch eine dicke Beule sein Gesicht verzerrt hatte, war nur noch eine mittelmäßige Erhebung zu sehen. Er konnte fast wieder normal sprechen. Nur den Wundschmerz empfand er noch als unangenehm, obwohl die Wunde aufgehört hatte zu bluten. Morgen wollte er seine Arbeit wieder aufnehmen.
Es läutete an der Wohnungstür. Al öffnete.
„Oh, Al, du siehst schon viel besser aus!“, freute sich Jung Sook. Sie zog ihren Mantel aus und setzte sich auf das Sofa, auf dem Al es sich bequem gemacht hatte.