Die Pest. Kent Heckenlively

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Die Pest - Kent Heckenlively

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York, Boston, Los Angeles und San Francisco auftauchte. Jeder, der nach, sagen wir mal, 1985 oder 1990 geboren ist, wird sich an keinen Zeitabschnitt im eigenen Leben erinnern können, in dem diese Geißel praktisch unbekannt war. Doch Mitte der 1980er-Jahre riefen besorgte Ärzte und verzweifelte Patienten immer wieder bei den Centers for Disease Control und den Gesundheitsämtern der großen Städte dieses Landes an, sodass sie in die Spitzenkategorie der Krankheiten rutschte, über die Anfragen eingingen. Am Ende übertrafen die Anrufe sowohl bei den CDC als auch bei den NIH die Anfragen über AIDS auf dem Höhepunkt der AIDS-Epidemie.

      Im Jahr 1988 traf sich eine kleine Gruppe besorgter Wissenschaftler und Kliniker in der Forschung in Newport, Rhode Island, um die Krankheit und ihre Ursachen zu diskutieren. Charles Carpenter, Medizinprofessor am Brown University Hospital, stellte fest: „Wir sehen hier etwas, das es in den Fünfzigern und Sechzigern nicht gab. Die meisten von uns haben den Eindruck, dass dies etwas Neues ist. Wenn es dies bereits in den Fünfzigern und Sechzigern gegeben hätte, dann wäre darüber etwas geschrieben worden, selbst wenn man es als psychiatrisch abgetan hätte. Aber es gibt nichts darüber in der Literatur. Und das lässt darauf schließen, es gibt ein vorherrschendes Agens, das diese Krankheit antreibt.“ Ein weiterer Arzt, Paul Cheney, stimmte zu. „Wie wäre es sonst möglich gewesen, diese Krankheit all die Jahre zu übersehen?“ fragte er. „Obwohl eine große Zahl der Patienten nur subtil und vielleicht nicht so schwer erkrankt ist, gibt es eine beträchtliche Zahl von Patienten, die wirklich unglaublich krank sind, und ich kann es einfach nicht glauben, dass die Medizin dies über Jahrzehnte oder Jahrtausende beobachtet – und übersehen – hat. Das ist zu offenkundig.“ Sechsundzwanzig Jahre, nachdem Carpenter und Cheney ihre Bedenken geäußert haben, belaufen sich gegenwärtige Schätzungen hinsichtlich der Anzahl der weltweit Betroffenen auf zwanzig Millionen, wobei es in den USA eine Million oder mehr Patienten gibt. Damit übersteigt die Zahl der Betroffenen die Zahl der Patienten mit Brust- und Lungenkrebs, AIDS und Multipler Sklerose zusammengenommen. Heutzutage setzt sich ein Arzt in New York City über Skype mit Patienten in Usbekistan, Schottland und Norwegen in Verbindung. Forscher aus Japan, China und Lettland kommen zu Medizinkonferenzen in San Francisco. ME ist jetzt die am häufigsten auftretende chronische Krankheit, von der die meisten Leute noch nie etwas gehört haben, bis sie selbst daran erkranken.

      Als 2009 Mikovits die Bühne betrat, war ME eine Krankheit mit einer schockierenden Geschichte der Vernachlässigung, die so weit ging, dass sie zu einer von der Regierung abgesegneten Verletzung von Menschenrechten gegenüber Millionen von Menschen auf der ganzen Welt aufgestiegen war. Den Patienten wurden nicht nur die medizinische Versorgung und Behindertenrenten verweigert sowie die emotionale Unterstützung, die sie von Familie und Freunden bekommen hätten, wenn sie an einer „wirklichen“ Krankheit gelitten hätten. Sie wurden entrechtet und von überall her mit Hohn und Spott überzogen und misshandelt. Kindern wurde die Schulbildung verweigert. Gelegentlich wurden Erwachsene und Kinder gegen ihren Willen in psychiatrischen Institutionen eingesperrt, und das entsetzliche Ergebnis war zumindest in einigen gut dokumentierten Fällen, dass sie daran starben. Das vielleicht schlimmste Ergebnis von alledem war die Abwärtsspirale in die Armut, die meist nach Beginn der Krankheit anfing und dann Jahre oder Jahrzehnte andauerte.

      ME war ein Sturm, der sich in den späten 1970ern am Horizont zusammenbraute, ein Leiden, das so unglaublich klang, dass man den Gerüchten darüber kaum Glauben schenken konnte: „Sie ist wie Mononukleose – mit dem Unterschied, dass man niemals wieder gesund wird.“ So beschrieb sie mir gegenüber zuerst ein Journalistenkollege, der üblicherweise auf dem Laufenden war. Diese einst seltene Krankheit war dabei, gleichzeitig mit der AIDS-Epidemie zu explodieren, aber diejenigen mit ME teilten ein ganz anderes Schicksal. Statt Milliarden an Dollar für die Forschung auszugeben und die Welt der medizinischen Forschung auf diese Krankheit zu konzentrieren, versuchten die Führungskräfte im Gesundheitswesen, ME mit allen verfügbaren Mitteln zum Verschwinden zu bringen. Sie versuchten dies zum Beispiel durch Marginalisierung ihrer Opfer, oder, wie ich das in meinem Buch Osler’s Web dokumentiert habe, indem sie ein Komplott schmiedeten, um die vom Kongress beschlossene Forschung zu verhindern.

      Es gibt eine großartige Abhandlung, die darauf wartet, über die unterschiedlichen Wege geschrieben zu werden, die von den Regierungen großer Nationen in Bezug auf AIDS und ME eingeschlagen wurden. Beide Krankheiten sind hinsichtlich ihrer Symptome und anormalen biologischen Werte kaum zu unterscheiden. Beide Krankheiten zeichnet ein gestörtes Immunsystem aus, das es unzähligen Virusinfektionen ermöglicht, sich auszubreiten – Viren, die normalerweise latent bleiben würden. Hinzu kommen ein erhöhtes Krebsrisiko, Demenz und vieles mehr. Bereits 1986 war ein Top-Neurologe nicht in der Lage, die beiden Krankheiten zu unterscheiden, als er MRT-Gehirnscans von ME-Patienten und die von Patienten mit AIDS-bedingter Demenz oder „ARD“ untersuchte. Die MRT-Scans von ME-Patienten waren übersät mit zahlreichen kleinen Läsionen und wiesen eine reduzierte graue Gehirnsubstanz auf. Die ME-Patienten leiden unter einer verheerenden Kaskade von Symptomen, und sie sind schließlich nur noch ein Schatten der Menschen, die sie einmal waren; mehr als die Hälfte ist vollständig ausgeschaltet, ein Viertel dauerhaft ans Bett gefesselt. Eine Erholung gibt es nur selten. Morbiditätsstudien haben gezeigt, dass ME-Patienten genauso krank sind wie AIDS-Patienten im Endstadium, Krebspatienten in einem fortgeschrittenen Stadium und Menschen, die an Herzinsuffizienz sterben.

      * * *

      Mit ihrer Veröffentlichung in Science im darauffolgenden Oktober lieferte Mikovits sehr überzeugende Beweise für eine AIDS-ähnliche Virusinfektion, die bei fast 70 Prozent der Patienten und 4 Prozent der gesunden Kontrollen vorhanden war. Das Virus war 2006 an der University of California entdeckt und als XMRV bezeichnet worden. Als Mitglied der Gammaretrovirus-Familie wurde XMRV als murines Leukämievirus eingestuft, das wahrscheinlich in einem kritischen Augenblick in der jüngeren Vergangenheit von seinem natürlichen „Reservoir“ – Mäusen – auf den Menschen übergesprungen war. Obwohl die Entdeckung der XMRVs wenig Aufmerksamkeit erregt hatte, lösten Mikovits’ Daten, die einen Zusammenhang zwischen dem Virus und ME, seltenem Immunkrebs und schließlich Autismus aufzeigten, drei Jahre später einen Feuersturm aus. Wenn ihre Daten richtig waren, dann waren allein in Amerika zehn Millionen Menschen mit diesem Virus infiziert, wenn auch asymptomatisch. In einem kritischen Augenblick im Verlauf des folgenden wissenschaftlichen Aufruhrs bezeichnete ein skeptischer Vizepräsident des amerikanischen Roten Kreuzes, Roger Dodd, Mikovits’ Erkenntnisse als „Das Weltuntergangsszenario“. Mit anderen Worten, es war zu schrecklich, um wahr zu sein.

      Eine von den Medien angeheizte Kontroverse brach aus, während Laboratorien auf der ganzen Welt versuchten, die Ergebnisse bei ME-Patienten zu replizieren. Es war ein Drama, das sich in den nächsten drei Jahren mit einer Heftigkeit abspielte, die in der Wissenschaft selten zu sehen ist. Berühmte Wissenschaftler schrien sich während normalerweise seriös ablaufender Konferenzen wegen ihrer Vorträge gegenseitig an; Beziehungen zerbrachen und Paranoia blühte auf, was offenbarte, dass Wissenschaftler sich vom Rest der Menschheit nicht wirklich unterscheiden. So unterschiedliche Publikationen wie The Economist und Science News folgten der Geschichte treu und brav und mit irritiertem Interesse, als ob die oft zweifelhafte Schlussfolgerung, die Sache zu bestätigen oder zu leugnen, sich auf ein Tennisspiel bezog anstatt auf eine dringende wissenschaftliche Angelegenheit, deren Ergebnis das Potenzial hatte, die Volkswirtschaften der Nationen zu beeinträchtigen. Eine sehr konservative Schätzung des jährlichen Verlustes für die US-Wirtschaft von ME belief sich auf 20 Milliarden Dollar, eine Zahl, die auf der unrealistischen Annahme basierte, dass alle, die durch die Krankheit arbeitsunfähig geworden sind, bevor sie erkrankten, nur 20.000 Dollar pro Jahr verdient hatten. Angesichts der Geschichte der lange politisierten Krankheit im Zentrum der Kontroverse war der Aufruhr kaum überraschend.

      Doch die Wissenschaftlerin im Zentrum der Kontroverse, die oft eine Baseballkappe und Flip-Flops trägt und sich mit ihrer gemeinsamen Abstammung mit Attila dem Hunnen brüstet, war eine Überraschung. Sie war sechsundvierzig Jahre alt, mit oft zerzausten Haaren, in die die Sonne helle Strähnen eingebrannt hatte, und großen, unschuldig aussehenden blauen Augen. Sie sah aus, als wäre sie am glücklichsten am Steuer eines Segelbootes irgendwo weit draußen auf dem Pazifischen

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