Das Leichenpuzzle von Anhalt. Bernd Kaufholz
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Читать онлайн книгу Das Leichenpuzzle von Anhalt - Bernd Kaufholz страница 8
Horst Otte ist an jenem Mittwoch allein in der Gaststätte seiner Eltern. Gegen 12.45 Uhr betritt ein blondes Mädchen – der 18-Jährige schätzt es auf zehn bis zwölf Jahre – das Lokal. Das Kind ist lediglich mit einer schwarzen Turnhose bekleidet. Das erregt den Wirtssohn. »Habt ihr Brause?«, fragt das Mädchen. Otte reicht ihr die Limonade über die Theke. Dann geht er schnell um den Schanktisch herum und hält das Kind fest.
Helga schreit: »Mutti, Hilfe!«, und: »Lass mich los!« Aber der 18-Jährige, der immer erregter wird, lässt nicht ab von ihr und schließt die Gaststättentür ab. Er wirft das strampelnde Kind auf den Boden. Dann kniet er sich vor Helga und reißt ihr Hose und Unterhose herunter. Weil sie immer noch schreit, versucht er, sie zu würgen. Als ihm das nicht gelingt, erhebt er sich. Helga ist bereits halb ohnmächtig und kann nicht mehr aufstehen. Trotzdem geht der Täter zur Theke und nimmt aus einem Kästchen einen Rest Gardinenschnur mit hölzernen Zierelementen. In aller Ruhe schneidet er ein Stück davon ab, legt es dem weinenden Kind als Schlinge um den Hals und zieht zu. Später wird er aussagen, dass er mit Helga »geschlechtlich verkehren wollte, aber aufgrund der Gegenwehr des Mädchens nicht mehr dazu gekommen« sei.
Otte öffnet die Tür zum Hausflur und prüft, ob die Luft rein ist. Dann schaut er nach, ob jemand im Keller ist. Er klemmt sich die Sterbende unter den rechten Arm, geht in den Keller und legt das röchelnde Kind auf den Betonfußboden, schließt die Tür ab und geht nach oben. Vor der Gaststättentür warten Gäste. Er schenkt ihnen Bier aus und läuft anschließend wieder in den Keller. Helga atmet kaum noch. Otte nimmt das Beil vom Regal und schlägt damit auf das Kind ein.
Er räumt Kohlen beiseite, legt die nackte Tote in die Kuhle und bedeckt sie sofort wieder mit Braunkohlen. Im Gastraum widmet er sich nach seiner blutigen Tat erneut den Gästen, als ob nichts geschehen ist. Den Kellerschlüssel hängt er ans Schlüsselbrett.
Das Innere des Lokals nach der Schließung. Links neben dem Ofen stand das Büffet, wo das Opfer vom Täter gewürgt wurde.
Zwei Tage später, am Freitag, geht Otte in den Keller. In der Hand hält er zwei Säcke, die er zuvor vom Hausboden geholt hat. Den einen zieht er der Toten von unten über die Füße, den zweiten stülpt er ihr über den Kopf. Er steckt sowohl die Turnhose, als auch den rosa Schlüpfer in den ersten Sack. Danach vergräbt er die Leiche erneut im Kohlehaufen links unter dem Fenster.
Als die Vernehmer am Abend des 4. August den Druck erhöhen, räumt Otte ein: »Der Grund dafür, dass ich das Mädel umgebracht habe, ist, dass es sich gewehrt hat, als ich sie geschlechtlich gebrauchen wollte.«
Es bleibt nicht bei seinem Mordgeständnis. Ohne danach gefragt zu werden, gibt er »weitere strafbare Handlungen« zu: »Ich habe zweimal im Stadtwald Frauen überfallen. Einmal habe ich einen Strick benutzt. Ich wollte die Frauen vergewaltigen.« Er räumt auch ein, er habe einem Mädchen aus dem Haus den Hals zugedrückt und versucht, es zu vergewaltigen.
Am 5. August erlässt das Kreisgericht Halle, Bezirk I, Haftbefehl.
Einen Tag später wird der Untersuchungshäftling der Krankenschwester Gertrud König gegenübergestellt.
»Kennen Sie diesen Mann?«, fragt Polizeiunterkommissar Baberowski.
»Ja, ich erkenne diesen Mann als denjenigen, der mich im Januar 1953 kurz vor Dölau vergewaltigen wollte.«
Dann richtet sich der Polizist an Otte: »Erkennen Sie diese Frau als die, welche Sie vergewaltigen wollten, wieder?«
Das bejaht der Täter ebenfalls.
Er sei damals in die Heide gefahren, »um mir dort eine Frau zu schnappen und diese geschlechtlich zu gebrauchen«, sagt Otte. Deshalb habe er auch zu Hause eine Schnur eingesteckt, um sie der Frau um den Hals zu werfen.
»Ist Ihnen klar, dass die Frau umgekommen wäre, wenn die Schnur nicht gerissen wäre?«
»Ich hatte aber nicht die Absicht, die Frau zu töten. Ich wollte nur nicht, dass sie schreit.«
»Und am 5. Mai?«
»An diesem Tag hatte ich nicht die Absicht, eine Frau zu vergewaltigen. Ich wollte nur eine kleine Spazierfahrt mit dem Fahrrad machen.« Erst als ihn eine junge Frau gefragt habe, von wo die Straßenbahnlinie 4 abfahre, sei ihm der Gedanke gekommen.
Dann legt der Vernehmer das Tagebuch des Mörders auf den Tisch und schlägt es auf. »Was bedeuten die Kreuze an einigen Tagen?«
»Das am 20. Mai steht da, weil ich das Mädchen umgebracht habe. Die anderen haben nichts Besonderes zu bedeuten. Ich habe sie immer gemacht, wenn ich meine Freundin geküsst habe.«
Die Rätsel um das Verschwinden der kleinen Helga und um die Überfälle in der Heide sind gelöst, doch obwohl der Täter in Haft sitzt, bewegt der Fall weiterhin die Gemüter: Am 4. September geht bei der Staatsanwaltschaft Halle ein Brief ein, der mit »Stimme Hunderttausender« unterzeichnet ist. Darin steht: »Hier geht das Gerücht um, der Lustmörder Otte sei geflüchtet, um seine Verbrechen fortzusetzen. Wann werden die Schuldigen an der Misere, nebst Verschleppung des Verfahrens seit Mai, endlich verantwortlich gemacht, oder bekommen sie den Schildkrötenorden? Soll der gegenwärtige Tatbestand den vielen Tausend zählenden Interessenten auch weiterhin verschwiegen werden? Das macht böses Blut!« Der Schreiber verlangt, eine Abschrift des Briefes an Justizministerin Hilde Benjamin und den »Kinderfreund Wilhelm Pieck« (erster Präsident der DDR) weiterzuleiten.
Ende September 1953 liegt das nervenfachärztliche Gutachten zu Otte vor. Darin wird unter anderem hervorgehoben, dass es sich beim Täter »um einen in seiner Triebstruktur abnorm veranlagten, zu Brutalität und triebhaften Sexualausbrüchen neigenden Menschen handelt, wobei die willensmäßige Lenkung und Steuerung, bzw. Dämpfung dieser tieferen Triebschichten nur ungenügend entwickelt ist«. Otte wird als »psychopathische Persönlichkeit« bezeichnet. Allerdings wird betont, Psychopathie sei keine Krankheit im Sinne des § 51 (Zurechnungsfähigkeit). »Die Gesellschaft erwartet auch von Menschen mit psychopathischen Charakterzügen eine entsprechende Einordnung in die gesellschaftlichen Belange.«
Dennoch empfiehlt die Psychiatrie und Nervenklinik der Universität Halle beim Strafmaß zu beachten, dass Otte zum Zeitpunkt der Tat noch keine 18 Jahre alt war und darum dem § 3 des Jugendgesetzes unterliegt.
Am 19. Oktober 1953 teilt der Generalstaatsanwalt der DDR dem Bezirksstaatsanwalt in Halle mit, dass er »mit dem beabsichtigten Strafantrag – lebenslängliches Zuchthaus - einverstanden« ist. Dann geht der Vertreter der obersten Anklagebehörde auf einen Artikel vom 8. August in der »Freiheit« ein. »Darin wird von der Bevölkerung, besonders von den Frauen, für den Jugendlichen Horst Otte die Todesstrafe für das bestialische Verbrechen gefordert. Es wäre darum angebracht, dass von einem Staatsanwalt des Bezirkes Halle ein Artikel in die Zeitung gesetzt wird, in dem man darauf hinweist, dass gemäß § 24 des Jugendgerichtsgesetzes bei Jugendlichen nicht auf Todesstrafe erkannt werden darf.«
Am 28. Oktober beginnt vor dem III. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle der Mordprozess gegen Horst Otte. Der Vorsitzende, Oberrichter Wicha, verkündet am 5. November das Urteil: »Der Angeklagte wird wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.«
»Der Angeklagte sei zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug, die gesellschaftliche Gefährlichkeit seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln«, heißt es in der Urteilsbegründung. Nach Meinung des Senats