Einführung in die germanistische Linguistik. Karin Pittner
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Abb. 5 Rheinischer Fächer (aus: Niebaum/Macha 2014:113)
Normierung
Da die Standardvarietät der öffentlichen, überregionalen Verständigung dient, ist sie sowohl in ihrer schriftlichen als auch in ihren mündlichen Ausprägungen normiert. Diese Normen werden durch das Bildungssystem und auch durch die Medien vermittelt. Die Normierung der geschriebenen Sprache bezieht sich auf die Orthographie und die Grammatik, die Normierung der gesprochenen Standardvarietät dagegen auf die Aussprache. Als erster Normierungsversuch der gesprochenen Sprache gilt das Wörterbuch zur „Deutschen Bühnenaussprache“ von Theodor Siebs aus dem Jahr 1898. Nach dem Duden-Aussprachewörterbuch (2005:34f.) ist die Standardlautung etwas deutlicher als die Umgangslautung, doch etwas schwächer differenziert als die Bühnenaussprache. Die Standardlautung ist eine Gebrauchsnorm, die sich an der Sprachwirklichkeit orientiert, sie ist überregional und enthält möglichst wenige Varianten. Eine wichtige Rolle für die Normierung der Sprache spielt auch das Rechtschreibwörterbuch von Konrad Duden, das 1902 zum ersten Mal erschien und sich an deutschen Schreibvarianten orientierte.
Umgangssprache
Es gibt keine klare Trennung zwischen Dialekt und Standardsprache. In Österreich und auch in Süddeutschland sind Dialektkenntnisse relativ verbreitet. Viele Sprecher/innen beherrschen beide Varietäten und sind in der Lage, sich in unterschiedlichen Graden an die Standardvarietät anzunähern. Hier ist von einem Kontinuum auszugehen, mit den Dialekten an einem und der Standardsprache am anderen Ende, wobei die Umgangssprache im Übergangsbereich liegt. Die Umgangssprache kann stärker als die Standardsprache bestimmte regionale Varianten enthalten, weswegen auch von Regiolekten die Rede ist.
Dialektschwund
Anders verhält es sich in Norddeutschland, wo das Niederdeutsche aufgrund der nicht durchgeführten zweiten Lautverschiebung so weit von der Standardvarietät entfernt ist, dass ein gradueller Übergang zwischen diesen Varietäten nicht möglich ist. Da die Standardvarietät das höhere Prestige besitzt, das Mittel der öffentlichen Kommunikation ist und in formelleren Situationen benutzt wird, sind die niederdeutschen Dialekte auf dem Rückzug, so dass hier Dialektschwund zu beobachten ist.
nationale Varietäten
Wenn wir von Standarddeutsch (das umgangssprachlich auch Hochdeutsch oder Schriftsprache genannt wird) sprechen, ist meist die Standardvarietät in Deutschland gemeint. Doch auch in anderen Ländern, vor allem in Österreich und der Schweiz, haben sich Standardvarietäten des Deutschen herausgebildet, die sich durch vor allem im Wortschatz von der deutschen Standardvarietät unterscheiden. Beispiele dafür sind die Bezeichnungen Jänner für den ersten Monat im Jahr, die in Österreich Standard ist, oder Velo als Bezeichnung für das Fahrrad in der Schweiz.
Diglossie in der Schweiz
Während in Österreich wie in Süddeutschland Dialekt und Standardsprache ein Kontinuum bilden, sind die Verhältnisse In der Schweiz anders. Die deutsche Standardvarietät, die als Schweizerhochdeutsch bezeichnet wird und nicht mit den häufig als Schweizerdeutsch bezeichneten alemannischen Dialekten zu verwechseln ist, wird im Wesentlichen nur geschrieben. Gesprochen wird dagegen fast ausschließlich Dialekt. Damit entspricht die sprachliche Situation in der deutschsprachigen Schweiz einer Diglossie.
Sprachzentren
Nationen, Staaten oder Sprechergemeinschaften mit einem eigenen Standard gelten als Sprachzentren. Da das Deutsche über verschiedene Sprachzentren verfügt, ist es eine plurizentrische Sprache. Diese Sprachzentren verfügen jeweils über eigene Werke, die die Sprache kodifizieren, wie etwa eigene Wörterbücher oder Grammatiken. In Deutschland spielen in dieser Hinsicht die Bände der Duden-Reihe eine entscheidende Rolle, Österreich und die Schweiz verfügen über Werke, die ihren Standard kodifizieren. Zum Kodex gehören in der Schweiz der Schüler-Duden und das Schweizer Wörterbuch, in Österreich das Österreichische Wörterbuch. Durch das Vorhandensein eines solchen Binnenkodex unterscheiden sich die Vollzentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz von Luxemburg oder den Regionen Ostbelgien und Südtirol, die zwar auch einen eigenen Standard ausgebildet haben, jedoch über keinen eigenen Kodex verfügen.
Sprachgrenze
Abschließend soll noch auf die Frage eingegangen werden, welche Varietäten zu einer Sprache gerechnet werden. Diese Frage stellt sich vor allem in Grenzgebieten wie an der deutsch-holländischen Grenze, da die niederdeutschen Dialekte dem Niederländischen ähnlicher sind als etwa dem Bairischen. Unter dem Gesichtspunkt der linguistischen Ähnlichkeit ließen sich eher das Niederdeutsche und Niederländische zu einer Sprache zusammenfassen als das Niederdeutsche und andere deutsche Dialekte. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang, dass sich die Sprecher/innen jeweils an einem unterschiedlichen Standard orientieren, niederdeutsche Sprecher/innen am Standarddeutschen, niederländische Sprecher/innen dagegen am Standardniederländischen, die jeweils auch in den Schulen gelehrt werden und in den Medien vorherrschen. Ammon spricht von einer „Überdachung“ eines Dialekts durch eine Standardvarietät. Die Grenzziehung zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum orientiert sich also eher an einer politischen als an einer linguistisch motivierten Grenze.
Wissens-Check
1. Erläutern Sie die Bedeutungen von Hochdeutsch und den Zusammenhang zwischen diesen Bedeutungen!
2. Bei den meisten Sprecher/innen liegt „Innere Mehrsprachigkeit“ vor, da sie nicht nur über eine Varietät verfügen: Welche Varietäten des Deutschen sprechen/schreiben Sie?
3. Nennen Sie die wichtigsten Eigenschaften einer Standardvarietät!
4. Finden Sie mit Hilfe des Variantenwörterbuchs des Deutschen heraus, in welchen Regionen die folgenden Varianten auftreten:
Sonnabend – Samstag
Schlagrahm – Schlagsahne – Schlagobers
Kommentierte Literatur
Ammon, Ulrich, Hans Bickel und Alexandra Nicole Lenz (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlung. Berlin: de Gruyter. [Nachschlagewerk zu nationalen Varianten]
Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart: Kröner. [bewährtes Nachschlagewerk für linguistische Fachbegriffe]
de Saussure, Ferdinand (1967): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2.