Friedrich Engels. Jürgen Herres
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NÜCHTERNE BILANZ – MIT FEHLERN
Die letzte Skizze über Marx schrieb Engels Ende 1892 für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften auf Anforderung des Herausgebers Ludwig Elster.104 Engels erstellte ein Schriftenverzeichnis105 und schrieb einen insgesamt nüchternen Vorspann.106 Anscheinend hatte er damit gerechnet, dass der Herausgeber daraus nur wenige biographische Daten zusammenstellen werde, so wie es zuvor bei dem Eintrag zu Engels selbst geschehen war.107 Jedenfalls war Engels überrascht, dass sein „ganz in unserem Sinn“ geschriebener Text, abgesehen von der „Auslassung einiger gar zu unbürgerlicher Stellen“ abgedruckt wurde.108 Leider sind die gestrichenen Passagen nicht bekannt.
Der Text, der auch in der Parteizeitung Vorwärts nachgedruckt wurde und bald darauf in diversen Übersetzungen erschien (aus Anlass des 10. Todestages von Marx, 14. März 1893), enthielt neue Informationen. Zum einen lüftete Engels hier erstmals das bis dahin streng gehütete Geheimnis, dass er als Ghostwriter einen Teil der Artikel von Marx für die New York Tribune in den 1850er Jahren verfasst hatte: „Die militärischen Aufsätze darunter, über den Krimkrieg, die indische Rebellion etc., sind von Engels“.109 Zum anderen teilte er Erkenntnisse auf Grund seiner Arbeit an den hinterlassenen Papieren von Marx mit, nämlich, dass dieser nach Publikation von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) die Unzulänglichkeit dieses Buches erkannt habe und sofort an eine Neubearbeitung statt eine Fortsetzung gegangen sei und dass er im Hinblick auf Band 3 des Kapitals (dessen Erscheinen Engels hier für 1893 ankündigte) umfangreiche Studien zu „Urgeschichte, Agronomie, russische und amerikanische Grundbesitzverhältnisse, Geologie“ vorgenommen habe.110
Die Rolle von Marx als „Begründer“ der IAA wird relativiert: „Viele, namentlich Franzosen, haben sich den Ruhm angemaßt, als Gründer dieser Association zu gelten. Es ist selbstredend, dass so etwas nicht von einem allein gegründet werden kann“. Aber Marx sei der einzige gewesen, „der sich klar war über das, was zu geschehen hatte, und was zu gründen war“.111 Marx habe französische Proudhonisten, deutsche Kommunisten und englische Gewerkschafter zusammenführen können, nur dass diese „Harmonie“ durch die „Anarchisten unter Bakunin“ gestört worden sei. Engels’ Text schloss mit der Feststellung, die meisten der über Marx erschienenen biographischen Arbeiten wimmelten von Irrtümern.112 „Authentisch“ sei allein die von ihm selbst in Brackes Volks-Kalender publizierte Darstellung. Das war ein „Eigentor“, denn sein jetzt vorliegender Text wies evidente Fehler auf: Marx habe 1841 in Berlin promoviert (statt: in Jena in absentia; aber Engels nennt hier das Thema der Dissertation zur antiken Naturphilosophie113); die Rheinische Zeitung sei einer dreifachen (statt: doppelten) Zensur unterworfen worden; ihr Verbot mit Wirkung zum 31. März 1843 sei am 1. Januar 1843 (statt: 20. bzw. 24. Januar) erfolgt und Marx sei an diesem Tag (statt: 17. März) aus der Redaktion ausgeschieden. Engels hatte offensichtlich aus dem Gedächtnis geschrieben114 und seinen eigenen Text von 1877 entweder nicht zur Hand115 oder nicht mehr nachgesehen, in dem jedenfalls die Zensurmaßnahmen gegen die Rheinische Zeitung auf Grund einer Mitteilung von Marx richtig dargestellt worden waren.116
RESÜMEE
Engels schrieb die hier diskutierten Texte meistens in kurzer Zeit und verließ sich oft auf sein Gedächtnis, was Fehler im Detail nach sich zog, die dann in späterer Literatur fortgeschleppt worden sind. Er schrieb im Hinblick auf jeweils aktuelle Konstellationen mit dezidierten politischen Intentionen und mit der polemischen Verve gegen alte und neue Gegner, die auch für seine politische Publizistik charakteristisch ist. Wann die Erwähnung, Anreicherung mit oder Weglassung von Details mit gezielten Absichten verbunden oder zufällig war, lässt sich oft nicht feststellen. Das Ziel der Darstellung ist aber immer klar: Marx ist nicht nur der Begründer des „wissenschaftlichen Sozialismus“ (eine Formel von Engels), sondern auch der modernen deutschen wie internationalen Arbeiterbewegung. Seine politischen Entscheidungen, inklusive Gründungen und Auflösungen von Institutionen, entsprachen immer den Notwendigkeiten in einer bestimmten historischen Konstellation, was von Zeitgenossen oft verkannt wurde, sich aber durch den Gang der Geschichte bestätigt hat.
Pjotr Beloussow, Lenin mit Delegierten des III. Komsomol-Kongresses 1920, 1949.
Engels beanspruchte nicht nur das Deutungsmonopol über Marx, sondern auch über die Geschichte der sozialistischen Bewegung, wie sich auch in verschiedenen Gedenkartikeln und Nachrufen auf zeitweilige Weggefährten von Marx und Engels zeigt, die jeweils ein selektives Bild zeichnen, pointierte Einschätzungen liefern und frühere Differenzen zugunsten einer Vereinnahmungsstrategie weglassen.117 Die von Engels wiederholt beklagte Unkenntnis der jüngeren Generation über die frühe Arbeiterbewegung hatte im Zeitpunkt der Publikation seiner Texte den Vorteil, dass es kaum jemand gab, der seine Aussagen kontrollieren konnte, obwohl er vieles gar nicht als Zeitzeuge (der aber bekanntlich nicht für Authentizität bürgt) erlebt hatte, und über vieles auch nicht informiert sein konnte.118 Aber Engels hat auch alte Sozialisten aufgefordert, ihre Erinnerungen aufzuschreiben beziehungsweise die in ihrem Besitz befindlichen Materialien für die Nachwelt zu sichern.119 Das hatte dann auf (sehr) lange Sicht auch den Effekt, dass die Deutungshoheit von Engels gebrochen werden konnte.
Seine Verfügung, dass sein Briefwechsel mit Marx veröffentlicht werde, hat bewirkt, dass vieles bekannt wurde, was seinem „offiziellen“ Marx-Bild widersprach. Als nach jahrelangen persönlichen und politischen Querelen ab 1910 dieser, Bernstein und Bebel vermachte Briefwechsel erschlossen wurde, waren alle, die ihn erstmals lesen konnten, entsetzt über die vulgäre Sprache, die maßlosen Attacken auf „Parteifreunde“ (Liebknecht; Lassalle), die verstörenden Einblicke in die Schmutzkampagnen im Emigrantenmilieu, von denen sich Marx mitnichten ferngehalten hatte, so dass Überlegungen aufkamen, auf eine Publikation lieber zu verzichten. Schließlich entschied man sich für eine „gesäuberte“ Ausgabe (erschienen 1913).120 Entscheidend waren letztlich die Marx-Engels-Gesamtausgaben, namentlich die „neue MEGA“ (seit 1975), in die auch die Briefe an Marx und Engels aufgenommen wurden, die vor allem durch das von Engels in seiner Zeit in Manchester gepflegte „Parteiarchiv“121 erhalten sind. Solange diese Edition unter der Ägide der Parteiinstitute in Moskau und Ostberlin stand, wurden zwar in den Einleitungen die Urteile von Engels (und Marx) reproduziert, zumal wenn sie von Lenin approbiert worden waren, aber auch schon in den Sachapparaten der Bände vor 1990 war, wenn auch in unterschiedlicher Deutlichkeit, das subversive Potential der Quellen erkennbar.122
Viktor Adler (1852–1918), Arzt und sozialdemokratischer Politiker, um 1910. Nach dem Studium der Chemie und Medizin in Wien war er als Armen- und Nervenarzt tätig. Als Gründer und Redakteur der ‚Gleichheit‘ und der ‚Arbeiter-Zeitung‘ wurde er zur zentralen Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie. Mit seiner liberalen und gemäßigten Haltung stellte er in menschlich gewinnender Art den Ausgleich zwischen den widerstreitenden Parteiflügeln her. Als „Hofrat der Nation“ war er Anfang November als Staatssekretär des Äußeren der ersten Regierung der Republik Österreich nominiert, deren offizielle Proklamation am 12. November 1918 er aber nicht mehr erlebte.