Friedrich Engels. Jürgen Herres
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Friedrich Engels - Jürgen Herres страница 12
Tatsächlich hatte Engels selbst in der Druckfassung seines Artikels Weglassungen und Abschwächungen zugestimmt, um der Berliner Regierung keinen zusätzlichen Vorwand für ein geplantes Nachfolgegesetz zum 1890 ausgelaufenen Sozialistengesetz zu liefern. Vertieft man sich in den Text, so wird deutlich, dass seine selbstkritischen Worte keine Lippenbekenntnisse oder temporären taktischen Zugeständnisse waren, sondern ernst gemeint waren.
Für Engels hatte die Geschichte „uns Unrecht gegeben“ und „unsre damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt“. Sie habe „klar gemacht“, dass „der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent“ 1848 und 1870 „noch bei weitem nicht reif“ gewesen sei „für die Beseitigung der kapitalistischen Produktion“. Erst in jüngster Zeit habe die „ökonomische Revolution“ in ganz Europa die „große Industrie … wirklich eingebürgert“ und ein „wirkliches großindustrielles Proletariat erzeugt“. Aber damit hätten sich „auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen“ habe.103
Mit seinen ‚revisionierenden‘ Überlegungen versuchte Engels dem Wachstum der Industrie und der Ausdehnung der Städte genauso Rechnung zu tragen wie den militärtechnischen Entwicklungen. Seinen „materialistischen“ Grundüberlegungen treu bleibend, sah er diese Prozesse als Produkte der Wechselwirkung einer Vielzahl von Bedingungen, Entwicklungen und Momenten, letztlich als Folge der sich verändernden Produktivkräfte. Durch diese Entwicklungen habe sich zwar hinsichtlich einer gewaltsamen Auflehnung des Proletariats „alles zugunsten des Militärs“ geändert. Aber das Wachstum der Arbeiterbewegung gehe „so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozess“.104 Dieses Hinüberwachsen in die gesellschaftliche und politische Übermacht sollte nach Möglichkeit nicht durch das Provozieren von Staatsstreichen gefährdet werden. „Was unsere Politik betrifft“, erläuterte er Marx’ Schwiegersohn Paul Lafague im Februar 1895, „so muß sie darin bestehen, uns … nicht provozieren zu lassen; … in zwei bis drei Jahren werden wir die durch die Steuer ruinierten Bauern und Kleinbürger auf unserer Seite haben.“105
Heinrich Kley, Teufel beim Stahlguss, um 1910.
In diesem Zusammenhang ist auch Engels’ zunehmende Sorge zu sehen, das „auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen“ könne einen „Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit“ zur Folge haben, damit „Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre“.106 Krieg hat Engels stets als ein von ökonomischen Gegebenheiten vermitteltes gesellschaftliches Phänomen gesehen und den militärtechnischen Entwicklungen eine große Bedeutung beigemessen, ohne dass es ihm jedoch trotz mehrmaliger Anläufe gelang, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler bemerkte, eine Theorie des Krieges zu entwickeln, die als Parallele zu Marx’ Theorie des Kapitals hätte fungieren können.107 In seinem letzten Lebensjahrzehnt hielt er die Entwicklung der Waffentechnik für vollendet. „[W]ir leben auf einer geladenen Mine“, schrieb er im Januar 1890 August Bebel, „und ein Funke kann sie sprengen.“108 In der Artikelserie Kann Europa abrüsten?, die auch als eigene Schrift erschien, plädierte er 1893 deshalb für einen „allgemeine[n] Uebergang vom stehenden Heer zu der als Miliz organisirten Volksbewaffnung“ als wichtigen Schritt zur allgemeinen Abrüstung. Vom „rein militärischen Standpunkt“, versicherte er, stehe „der allmäligen Abschaffung der stehenden Heere absolut nichts im Wege“.109
Die vorliegende durchaus eigenwillige Diskussion der unsterblichen Werke von Engels, in der nicht nur die von Engels aufgelisteten, sondern auch seine nicht erwähnten Publikationen und Projekte berücksichtigt wurden, zeigt ihn als europäischen Sozial- und Gesellschaftskritiker, der facettenreicher und vielschichtiger war, als er im 20. Jahrhundert in der Regel dargestellt wurde, aber auch widersprüchlicher. Angesichts einer bis dahin noch nie gesehenen Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft suchte er nach wissenschaftlichen Erklärungen, die zugleich politische Perspektiven eröffnen sollten. Aber die Gefahren politischer Gewaltausübung und revolutionärer Selbstermächtigung wollte er nicht sehen, obwohl er dies aufgrund der Erfahrungen der Französischen Revolution von 1789 sehr wohl gekonnt hätte.
Wir sollten Engels als Teilnehmer wichtiger Diskussionen über ernste Fragen und große Probleme sehen, als Radikalen des 19. Jahrhunderts, der Globalisierung und Industrialisierung als Voraussetzungen einer menschlichen Selbstbefreiung zu begreifen versuchte. Welche seiner Texte und Manuskripte tatsächlich „unsterblich“ werden, kann jedoch nur die Zukunft erweisen.
Weltgeschichte: Die Communisten, 1848.
ENGELS ÜBER MARX
BIOGRAPHIE ALS GESCHICHTSPOLITIK
WILFRIED NIPPEL
Friedrich Engels hat nach dem Tode von Marx das gemeinsam betriebene „Compagniegeschäft“1 verschiedentlich erläutert. Er habe stets gern die „zweite Violine“ hinter Marx gespielt; wenn er aber auch „in Sachen der Theorie Marx’ Stelle [zu] vertreten“ habe, könne das „nicht ohne Böcke“ gehen, schrieb er in einem Privatbrief.2 In einem publizierten Text hieß es, ihm sei zugefallen, „unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerks Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsere Anschauungsweise meist in polemischer Form […] darzustellen“.3
Zu Engels’ Geburtstag 1887 schrieb sein „Schüler“ Karl Kautsky in einem Artikel, der mit dem Gefeierten eng abgestimmt war, Marx habe „die gemeinsam gefundene Theorie systematisch für die wissenschaftlich Welt“ ausgearbeitet, Engels sie polemisch gegen Gegner vertreten und auf ihrer Basis „die großen Fragen der Gegenwart […] und die Stellung des Proletariats ihnen gegenüber“ behandelt. Er betonte zugleich, dass Engels mit Anti-Dühring, 1877/78 erschienen, also zu Lebzeiten von Marx, „das grundlegende Werk des modernen Socialismus“ veröff entlicht habe, in dem „die wichtigsten Punkte des gesammten modernen Wissens vom Standpunkte der Marx-Engelsschen mate-rialistischen Dialectik“ behandelt seien.4
In seinem Nachruf bezeichnete Eduard Bernstein, der andere „Meisterschüler“, Engels als „Träger und Dolmetscher der großen Gesichtspunkte unserer Bewegung“. Die Geschichte werde ihn „den Mitbegründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus“ nennen und ihm die „gebührende Stelle neben Karl Marx anweisen, die er sich bescheiden stets verweigert hat“.5
Ohne Engels hätte es keinen „Marxismus“ gegeben,6 denn er hat mit der Publikation von Kapital, Band 2 und 3 aus den nachgelassenen Manuskripten von Marx dessen Hauptwerk zum Abschluss gebracht7 und mit den Neuausgaben diverser älterer Schriften ein erstes Corpus Marx’scher Texte konstituiert.8 Er stellte ihnen zugleich historisierende wie aktualisierende Vorworte voran, die dann als authentische Interpretationen die Wirkungsgeschichte entscheidend geprägt haben.9 Engels hat ferner mehrere Monate darauf verwendet, den von dem Nationalökonomen Lujo Brentano nach fast zwanzig Jahren aus durchsichtigen politischen Gründen neu aufgelegten Vorwurf, Marx habe im Kapital ein Zitat verfälscht, in einer Broschüre von 75 Seiten, In Sachen Brentano contra Marx wegen angeblicher Zitatfälschung. Geschichtserzählung