Friedrich Engels. Jürgen Herres
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Nach dem Sieg über Bismarcks Sozialistengesetze, die zwischen 1878 und 1890 sozialdemokratische Organisationen und ihre Presse im Deutschen Kaiserreich verboten hatten, glaubte Engels in seinem letzten Lebensjahrzehnt, in der deutschen Sozialdemokratie endlich das Instrument für den Sieg über den Kapitalismus gefunden zu haben. Insbesondere zu dem Sozialdemokraten August Bebel hatte er ein enges politisches und persönliches Verhältnis; die Übereinstimmung in „Denkrichtung und Denkweise“ mit Bebel bezeichnete er „förmlich wunderbar“.88 Aktiv war Engels an der Vorbereitung des internationalen Arbeiterkongresses beteiligt, der im Juli 1889 anlässlich des 100. Jahrestags der Französischen Revolution in Paris abgehalten und auf dem konfliktreich die Zweite Internationale gegründet wurde. In den sozialdemokratischen Programmberatungen, 1875 auf dem Gothaer und 1891 auf dem Erfurter Parteitag, stritt Engels von London aus dafür, dass die Arbeiterpartei der Konfrontation mit dem deutschen Staat nicht ausweiche. Sei es nicht möglich, „ein offen republikanisches Parteiprogramm“ aufzustellen, so Engels 1891, dann müsse man wenigstens die „Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung“ verlangen.89 In den europäischen Arbeiterbewegungen forderte er eine „absolute Freiheit der Debatte“. Kritik war aus seiner Sicht das „Lebenselement“ jeder politischen Bewegung.90
In der Liste seiner unsterblichen Werke ließ Engels – unvollendete – Buchprojekte genauso unerwähnt wie wichtige publizierte Texte. Auch die Zusammenstellung und Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Marx’schen Kapitals, womit er über Jahre hinweg trotz einer Augenkrankheit, wahrscheinlich eine chronische Bindehautentzündung, intensiv beschäftigt war, erwähnt er nur beiläufig.
Als erstes politisches und wissenschaftliches Vorhaben machte sich Engels unmittelbar nach seinem Ausstieg aus dem Unternehmen Ermen & Engels mit großem Elan an eine – nie abgeschlossene – deutschsprachige Geschichte Irlands. 1869/70 arbeitete er umfangreiche Literatur und zahlreiche historische Quellen durch, aus denen er – bis heute unveröffentlichte – Exzerpte in einem Umfang von über sechshundert Druckseiten anfertigte. Immerhin schrieb er die ersten beiden von insgesamt drei Kapiteln nieder.91 Als im Juli 1870 der Deutsch-Französische Krieg ausbrach, kommentierte er diesen monatelang in der liberal-konservativen Londoner Abendzeitung Pall Mall Gazette,92 gestützt auf die offiziellen Telegramme beider Kriegsparteien, die er abwägend und kritisch analysierte.
Engels, der zeit seines Lebens die naturwissenschaftlichen Fortschritte verfolgte, begann sich seit 1873 eingehend mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen. Er plante ein „naturphilosophisches Werk“, in dem er die gemeinsamen Charakteristika aller Naturwissenschaften seiner Zeit zu einer umfassenden Theorie der Natur kombinieren wollte. Seine fast zweihundert fragmentarischen Textstücke wurden im 20. Jahrhundert unter dem Titel Dialektik der Natur93 zusammengefasst und galten dem Marxismus-Leninismus als grundlegendes philosophisches Werk. Engels selbst war skeptischer. „Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtentheils oder ganz überflüssig“, meinte er 1885.94 Albert Einstein, 1924 um ein Gutachten gebeten, meinte, Engels’ Aufzeichnungen würden immerhin wichtige Einblicke in die Wissenschaftsbegeisterung und Rezeption der damaligen Zeit geben.95
Friedrich Engels’ Mitgliedskarte der International Working Men’s Association.
In der ersten Hälfte der 1870er Jahre verfassten Engels und Marx – teilweise im Auftrag des Generalrats der Internationale – mehrere Anklageschriften gegen den russischen Anarchisten Michail Bakunin. In seiner Publikationsliste nennt Engels nur seine Artikelserie Die Bakunisten an der Arbeit von 1873,96 in der er Rückschläge der sozialistischen Bewegungen nach der Proklamation der spanischen Republik auf dortige Machenschaften Bakunins und seiner Anhänger zurückführte. Die gemeinsam mit Marx verfassten Schriften Les prétendues scissions dans l’Internationale (Die angeblichen Spaltungen in der Internationale) von 187297 und L’Alliance de la Démocratie Socialiste et l’Association Internationale des Travailleurs (Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassociation) von 1873/7498 ließ er jedoch außen vor. Die erste Schrift wurde im März 1872 im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation, dem Engels seit 1870 angehörte, verlesen und in einer Aufl age von zweitausend Exemplaren versandt. Sie ist ein „Sammelsurium von Irrtümern“,99 ohne Verständnis für politische Zusammenhänge und Entwicklungen innerhalb revolutionärer Bewegungen. Die zweite Broschüre war – so der Engels-Biograph Gustav Mayer – „das leidenschaftliche Plädoyer eines von der Richtigkeit seines Standpunktes fest überzeugten Staatsanwalts, der sich kein Argument entgehen läßt, das zur Verurteilung des Angeklagten beitragen kann“.100 Engels’ und Marx’ zufolge scheint es unter der Leitung Bakunins nichts als Intrigen gegeben zu haben.
„DIE GESCHICHTE HAT UNS … UNRECHT GEGEBEN“ (ENGELS, 1895)
In seinem letzten größeren veröff entlichten Text, der berühmt gewordenen Einleitung zur Wiederaufl age der Marx’schen Artikelserie Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850 von 1850, äußerte sich der 74-jährige Engels 1895 selbstkritisch über seine und Marx’ politischen Revolutionsvorstellungen von 1848/49. „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußt-loser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei“. Stattdessen würden das allgemeine (Männer)Wahlrecht, politische Aufklärung und „parlamentarische Tätigkeit“ ihre „langsame Arbeit“ verrichten.101
Christian Ludwig Bokelmann, Die letzten Augenblicke einer Wahlschlacht, 1890. Im Moment unmittelbar vor Betreten des Wahllokals – einige Gebäudeelemente deuten auf das Rathaus in Düsseldorf hin – tritt die Ausrichtung der politischen Parteien in den Erwartungen und Haltungen ihrer Wähler zutage. Das öffentlichem Interesse an der Reichstagswahl 1890 war groß, auch wenn die Stimmen nach dem Klassenwahlrecht unterschiedlich gewichtet waren und Frauen sowie junge Erwachsene selbst kein Stimmrecht hatten.
Nach Engels’ Tod löste sein Text wütende Auseinandersetzungen aus. Eduard Bernstein, der von Engels (gemeinsam mit August Bebel) zum literarischen Nachlassverwalter bestimmt worden war und den Revisionismusstreit in der deutschen Sozialdemokratie lostrat, sah darin Engels’ „politisches Testament“. Rosa Luxemburg wiederum distanzierte