Friedrich Engels. Jürgen Herres
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ENGELS UND DIE EUROPÄISCHE SOZIALDEMOKRATIE
In den zwölf Jahren, um die er Karl Marx überlebte, sah Friedrich Engels seine Rolle als Hüter und authentischer Interpret von Marx’s theoretischem und politischem Vermächtnis. Neben der Herausgabe der unpublizierten Teile des Kapital besorgte Engels die Wiederveröffentlichung älterer Marx’scher und eigener Schriften, die er mit neuen Vorworten versah, in denen er die seit ihrem ersten Erscheinen eingetretenen Veränderungen und auch in der Folge offenkundig gewordenen Fehleinschätzungen kommentierte.
Diese Zeit war gleichzeitig eine Periode des kräftigen Wachstums sozialdemokratischer Parteien auf dem europäischen Kontinent. Während die erste Organisation der sozialistischen Bewegung in Form der ersten Internationalen Arbeiterassoziation 1876 gescheitert war, konstituierte sich die Bewegung neu in Form von nationalstaatlich organisierten Arbeiterparteien, die dadurch zum politischen Machtfaktor und vom Bürgertum zunehmend als Bedrohung empfunden wurden.
Engels’ Bedeutung für das Wachstum der europäischen Sozialdemokratie in dieser Zeit ist kaum zu überschätzen. Er unterhielt eine umfangreiche Korrespondenz mit Funktionären der Parteien in fast allen Ländern Europas, von denen er viele auch zu Besuchen in seinem Heim in London empfing. Stärker involviert wurde er – von England abgesehen, das zu seiner Enttäuschung im Aufbau einer marxistisch orientierten Arbeiterpartei lange Zeit hinter dem Kontinent zurückgeblieben war – in die Angelegenheiten der französischen Sozialisten und der deutschen Sozialdemokraten. Allzu nachdrückliche Interventionen vermeidend, versuchte er doch, die Parteien auf den seiner Ansicht nach richtigen Kurs zu bringen. Dabei war es unvermeidlich, dass er auch in Konflikte zwischen den Parteien (v. a. Frankreichs und Deutschlands) und innerhalb der Parteien hineingezogen wurde. Besonders in Deutschland griff er immer wieder in innerparteiliche Diskussionen der Parteiführung mit reformistischen „Abweichlern“ ein.
Der österreichischen Sozialdemokratie hat Engels erst relativ spät seine Aufmerksamkeit zugewendet. Es ist anzunehmen, dass er von seinem engsten politischen Mitkämpfer Karl Kautsky, der aus Österreich stammte und in der Zeit der inneren Zerrissenheit der Bewegung vor dem Einigungsparteitag 1888/89 sich dort aktiv betätigt hatte, über die Verhältnisse informiert worden ist. Ein intensiver Kontakt entstand nach der Neugründung durch Victor Adler, den Engels bald außerordentlich schätzen lernte, und mit dem ihn eine tiefe, gleichermaßen politische wie persönliche Freundschaft verband. Engels nahm an der raschen Entwicklung der Partei intensiv Anteil, darüber hinaus ließ er der Partei und ihrem Vorsitzenden manche finanzielle Unterstützung zukommen. Das Verhältnis blieb bis zum Schluss frei von jeder Trübung, weil Engels volles Vertrauen zur Parteiführung hatte und er die Partei auf dem richtigen „Weg zum Sozialismus“ sah.
DER WEG ZUM SOZIALISMUS
Im Verständnis des „wissenschaftlichen“ – im Gegensatz zum „utopischen“ – Sozialismus ist die Überwindung des Kapitalismus eine Folge von dessen inhärenter Entwicklung, die als langfristiger, sich mit unwiderstehlicher Notwendigkeit vollziehender Prozess gesehen wird. Der progressiven Entfaltung der Produktivkräfte entspringen innere Widersprüche im Kapitalismus, die „nach ihrer Erlösung von ihrer Eigenschaft als Kapital, nach tatsächlicher Anerkennung ihres Charakters als Produktivkräfte [drängen]“1. Die gesellschaftlich-politische Kraft, welche diese Transformation vollzieht, ist das Proletariat, welches als Folge der kapitalistischen Entwicklung zur Bevölkerungsmajorität und als organisierte politische Bewegung in die Lage versetzt wird, die Macht im kapitalistischen Staat zu übernehmen. Ob die Machtübernahme durch demokratische Willensbildung oder im Zuge einer finalen „Krise“ vonstatten geht, bleibt dabei offen.
Das Kommunistische Manifest spricht davon, dass „der erste Schritt in der Arbeiter-revolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“2 Das weitgehende Scheitern der bürgerlichen 1848er Revolution brachte zunächst einen Rückschlag bei diesem Bestreben. Mit der zunehmenden Verbreitung des allgemeinen Wahlrechts für die männliche Bevölkerung bzw. dessen Ausdehnung auf größere Bevölkerungskreise eröffnete sich für die sozialdemokratischen Parteien eine erfolgversprechende Perspektive, in einem Zeitraum von einigen Generationen die Macht im Staat zu übernehmen, und bereits auf dem Weg dahin Kernforderungen wie die Einführung des Achtstundentages durchzusetzen. Darauf konzentrierten sich die polit-strategischen Überlegungen von Friedrich Engels, auf denen seine Empfehlungen an die sozialdemokratischen Parteien basierten.
Nicht „mit einem Schlag“ können die Sozialisten den Sieg erringen, sondern nur „in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen.“3 „Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten durchgeführten Revolutionen ist vorbei … Wo es sich um die vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein.“4 Als beispielhaft galt Engels die deutsche Sozialdemokratie „als die stärkste, die disziplinierteste, die am raschesten anschwellende sozialistische Partei“, die den Schwesterparteien in andern Ländern zeigte, „wie man das allgemeine Wahlrecht gebraucht.“5 Engels extrapolierte die Zunahme des Stimmen- und Mandatsanteils der SPD bei den Reichstagswahlen, der bis 1894 auf ein Viertel angestiegen war, in die Zukunft und sah die Erlangung der parlamentarischen Mehrheit nicht mehr in weiter Ferne, sondern durchaus in Reichweite gerückt. Die stetige Steigerung des Stimmenanteils ist dabei nicht Selbstzweck, sondern Mittel dazu, das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft zu stärken, damit die Kampfkraft zu steigern, immer gerichtet auf das näher rückende Endziel der sozialistischen Gesellschaftsordnung.
Als kontraproduktiv verfiel daher jede Form des „anarchistischen“ Terrors dem strikten Verdikt von Engels. Attentate, Verschwörungen böten nur der Bourgeoisie einen Anlass für Polizeimaßnahmen oder sogar für putschartiges Vorgehen.6 Engels warnte besonders davor, im Kampf um die Eroberung der Macht auf gewaltsame Rebellion und Straßenkampf zu setzen. Wenn ihm „die Rebellion alten Stils“ schon 1848 veraltet erschien, so waren durch die Weiterentwicklung der Waffentechnik und der Militärlogistik seither „auf Seiten des Insurgenten alle Bedingungen schlechter geworden“. Daher sollte sich das Proletariat nicht von der um seine Herrschaft fürchtenden Bourgeoisie provozieren lassen, sich „auf die Straße begeben, wo wir der Niederlage im Voraus gewiss sind.“7
In den parlamentarischen Auseinandersetzungen über einzelne Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollten die Sozialdemokraten im Parlament alle Maßnahmen unterstützen oder nicht behindern, welche die Liquidierung feudaler Strukturen und die Verminderung der selbstständigen kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Bevölkerungsschichten beschleunigen, wie z. B. Abschaffung von agrarischen Schutzzöllen. Je schneller sich der Kapitalismus zu seiner reinen Form entwickelt, umso rascher steigt der Bevölkerungsanteil des Proletariats, und damit die politische Machtbasis der Sozialdemokratie. Energisch widersprach Engels allen reformistischen und „staatssozialistischen“ Tendenzen in der SPD.
Als auslösender Faktor für eine Machtübernahme des Proletariats spielt die zunehmende Instabilität der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft eine wichtige Rolle. Marx unterstellte als „geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“8 periodisch wiederkehrende Wirtschaftskrisen mit einer Tendenz zur Verschärfung. Mit zunehmender Kapitalakkumulation bekommen immer breitere Bevölkerungsschichten und immer mehr Länder ihre Folgen zu spüren, es kommt zu einer wachsenden Polarisierung zwischen Macht und Reichtum auf Seiten des Kapitals und Elend und Unsicherheit auf Seiten der Arbeiter, es „wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.“ Angetrieben wird dieser Prozess durch den tendenziellen