Friedrich Engels. Jürgen Herres
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Friedrich Engels - Jürgen Herres страница 19
Bei Engels erscheint die These von der Verschärfung der periodisch wiederkehrenden Krisen nur mehr in abgeschwächter Form im Anti-Dühring (erstmals erschienen 1878).10 Im Abstand von etwa zehn Jahren wird immer wieder der Punkt erreicht, an dem „der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise versagt unter dem Druck der von ihr selbst erzeugten Produktivkräfte. Sie kann diese Masse von Produktionsmitteln nicht mehr alle in Kapital verwandeln. … Aber der Überfluss wird Quelle der Not und des Mangels.“ Während diese Situation bei Marx als revolutionär dargestellt wird, ohne allerdings dort das Wort Revolution zu verwenden, decken bei Engels „die Krisen die Unfähigkeit der Bourgeoisie zur ferneren Verwaltung der Produktivkräfte auf“. Immer mehr übernimmt die Kapitalgesellschaft die Funktion des privaten Eigentümers, eine Form, die vom Staat geschaffen ist, der immer mehr Funktionen als Organisator der kapitalistischen Wirtschaft übernimmt und dadurch zum „ideellen Gesamtkapitalisten“ wird. Hier ist der Punkt, wo das Proletariat die Staatsgewalt ergreift.
Engels hatte wenig Interesse an analytischtheoretischen Fragen des Akkumulationsprozesses und des Krisenmechanismus, mit denen sich Marx mit großer Intensität in den von Engels nach dessen Tod herausgegebenen Bänden des Kapital auseinandersetzte. Engels ging es mehr um die politisch-strategische Frage der Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat.
KURZE GESCHICHTE DER SOZIALISTISCHEN BEWEGUNG IN ÖSTERREICH BIS ZUM EINIGUNGSPARTEITAG 1888/89
In Österreich erfolgten die ersten Initiativen zur Gründung einer sozialdemokratischen Parteiorganisation nur wenig später als in Deutschland. Nach 1867 bildeten sich in rascher Folge Arbeiterbildungsvereine. Die Repression setzte in Österreich deutlich früher ein als in Deutschland durch Bismarcks Sozialistengesetz 1878. Nach einer Massendemonstration im Dezember 1869 wurden die führenden Funktionäre eingekerkert und die Arbeiterbildungsvereine verboten, ein vernichtender Schlag, der die Bewegung gegenüber der deutschen um zwanzig Jahre zurückwarf. Während in Deutschland die zwei unterschiedlichen Strömungen der Lassalleaner und Eisenacher am Gothaer Parteitag 1875 zusammenfanden und als Partei im Parlament geschlossen auftraten, kam es in Österreich zu heftigen Richtungskämpfen der versprengten Reste, einem Kampf zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“. In dieser verfahrenen Situation trat Victor Adler 1886 in die sozialdemokratische Bewegung ein und widmete sich mit aller persönlichen Energie der Überwindung der Richtungskämpfe. Tatsächlich gelang es Adler, in kaum drei Jahren die widerstreitenden Flügel auf dem Einigungsparteitag an der Jahreswende 1888/89 („Hainfelder Parteitag“) auf der Grundlage des neuen, nahezu einstimmig beschlossenen „Hainfelder Programmes“ zusammenzuführen.
Victor Adler (1852–1918)11 stammte aus einer ursprünglich in Prag ansässigen bürgerlichen jüdischen Familie. Nach der Übersiedlung nach Wien Mitte der 50er Jahre erwarb Adlers Vater mit Immobilien- und Geldgeschäften ein beträchtliches Vermögen. Victor verbrachte seine Kindheit und Schulzeit bereits in der Hauptstadt. An der Universität schloss er sein Studium der Medizin 1876 ab und bildete sich in der Psychiatrie weiter. Danach etablierte er sich als Psychiater und Nervenarzt, seine Ordination befand sich zuletzt an der Adresse Berggasse 19.12 Seine Wahl der Spezialisierung im medizinischen Fach deutet darauf hin, dass Adler stark an den sozialen Aufgaben seines Berufs interessiert war.
Adler engagierte sich politisch zuerst in der liberalen Partei der „Deutsch-Fortschrittli-chen“. In Kontakt zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung kam Adler erstmals 1881 durch Vermittlung des ebenfalls aus Prag stammenden Karl Kautsky, der jedoch angesichts des desolaten Zustands der österreichischen Parteiorganisation sein Betätigungsfeld nach Deutschland und in die Schweiz verlagert hatte. Kautsky, der mit Engels seit 1881 in Kontakt stand, war es auch, der Adlers Besuch bei Engels avisierte. „Er ist zwar kein direkter Parteigenosse, aber ein uns sehr nahestehender und, soweit ich ihn kenne – auch ehrlicher Philanthrop“13.
1883 wurde in Österreich eine Gewerbeinspektion („Fabrikinspektion“) eingeführt, mit der Aufgabe, die Einhaltung von vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen gegen Arbeitsunfälle, die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter, die Einhaltung der Arbeitszeit, Form der Lohnauszahlung in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten zu überprüfen. Adler bewarb sich sogleich um die Position eines Fabrikinspektors und unternahm zur Vorbereitung eine Studienreise nach England, Deutschland und in die Schweiz, deren Erkenntnisse er in einer umfangreichen Abhandlung zusammenfasste.14 Das wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung war, dass die Wirksamkeit dieser Institution durch Defizite bei der Umsetzung der Bestimmungen erheblich gemindert wurde, was vor allem durch die unzureichende personelle Ausstattung und mangelnde Sanktionen bei den häufig festgestellten Rechtsverletzungen bedingt war. Die realen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse waren stärker als die ohnehin bescheidenen Ansätze zu sozialreformerischen Maßnahmen.
Für Adlers Hinwendung zum marxistischen Sozialismus war nicht die Philosophie oder die politische Ökonomie der englischen Klassiker der Ausgangspunkt, sondern seine schonungslose Analyse der von Armut und Elend geprägten sozialen Lage großer Teile der Arbeiterschaft, für die er ein tiefes Mitgefühl empfand, und zugleich die Notwendigkeit zu politischem Handeln. Es war die Suche nach den tiefer liegenden Ursachen, die Adler zu den Theorien von Marx und Engels hinführte.
Nach dem Scheitern seiner Bewerbung zum Fabrikinspektor widmete sich Adler mit all seiner Kraft der Zusammenführung der unterschiedlichen Richtungen und der zersplitterten Arbeiterorganisationen zu einer marxistisch orientierten sozialdemokratischen Partei. Als Mittel der Agitation gründete er unter beträchtlichem Einsatz nach dem Tod des Vaters ererbter eigener finanzieller Mittel die Wochenzeitung „Die Gleichheit“, deren erste Nummer im Dezember 1886 erschien.
Seine Agitation zeitigte auch unmittelbare Erfolge, als sich Adler im Dezember 1888 unerkannt in die Ziegelwerke der Wienerberger Gesellschaft am Stadtrand von Wien einschlich und die schrecklichen Zustände in mehreren Artikeln in der „Gleichheit“ eingehend darstellte und anprangerte. Diese Veröffentlichungen führten zu einer Interpellation der demokratischen Abgeordneten Engelbert Pernerstorfer und Ferdinand Kronawetter im Reichsrat, die Auskunft über die gesetzwidrige Untätigkeit der Behörden forderten. Unmittelbar danach erschien der Gewerbeinspektor in der Fabrik. Immerhin wurden in der Folge die Löhne in barem Geld und nicht in Blechmarken ausbezahlt, die nur in betriebseigenen Verkaufsstätten bei überhöhten Preisen eingelöst werden konnten. Andererseits wurde gegen Adlers Helfer mit scharfen Repressions-maßnahmen polizeilich vorgegangen.15
Der Eindruck, den Engels beim Besuch Adlers 1883 von dessen Persönlichkeit empfing, war so positiv, dass er unmittelbar danach an Kautsky schrieb: „Er ist ein Mann, aus dem noch was werden kann.“16 Ein direkter Kontakt resultierte aus diesem Besuch zunächst nicht, jedoch bestand ein indirekter Kontakt über den damals in London lebenden Karl Kautsky, der noch 1886 an Adler berichtete, dass die „Gleichheit“ „Engels sehr gut [gefällt].“17
Adlers Bemühungen um eine Einigung der sozialdemokratischen Bewegung machte vor allem durch Massenversammlungen, bei denen weitgehend einstimmig Resolutionen beschlossen wurden, beträchtliche Fortschritte. Dabei erweckte Adler bei Kautsky Miss-trauen durch eine allzu große Kompromissbereitschaft gegenüber den „Radicalen“. „Ich fürchte“, schrieb Kautsky an Engels, „Adler ist zu sehr von der Sucht besessen, Erfolge zu sehen, die Partei groß zu machen um jeden Preis. Statt die vorhandenen tüchtigen Elemente zu fördern, hat er, um höchst zweifelhafte Elemente zu gewinnen, tüchtige Leute abgestoßen und verbittert.“18
Kautskys Vorbehalte verschwanden jedoch rasch, als er von Adler bei der Vorbereitung des Einigungsparteitags, besonders zur Formulierung des Entwurfs des zunächst nur „Prinzipienerklärung“ genannten Programms beigezogen wurde.19 Auf dem vom 30. Dezember 1888 bis 1. Jänner 1889 in einem Gasthof in Hainfeld, einem kleinen Ort in den niederösterreichischen Voralpen, stattfindenden