Friedrich Engels. Jürgen Herres
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Bernstein wandte sich unmittelbar vor dem Erscheinen seines Buches an Adler mit der Bitte um Besprechung, da Kautsky selbst meine, „es sei gut, wenn Du als der Erste in der Parteipresse Dein Diktum über mein Buch abgibst.“ Bernstein setzte auf Adlers „Versöhnungsliebe“: „Ich glaube, bei Dir auf Verständnis rechnen zu können, das den in der deutschen Parteipresse jetzt tonangebenden Rezensenten abgeht.“57
Adler bemühte sich auch, die Gegensätze in ihrer Bedeutung herunterzuspielen. In dem Streit gehe es um die Frage „wo wir stehen, … nicht etwa darüber, wohin wir gehen sollten.“58 Deutlich drückt er – trotz des wiederholten Bekennens zur Orthodoxie – seine Skepsis gegenüber der Verelendungstheorie und der „Katastrophentheorie“ aus.59 Aber letztlich ordnet Adler die Theorie der politischen Arbeit („Gegenwartsarbeit“) unter. Denn „die proletarische Bewegung (ist) keineswegs in erster Linie abhängig von ihrer Theorie; weit eher umgekehrt. … Die sozialistische Theorie ist in gewissem Sinne der Überbau, der mit dem Fortschritt der Entwicklung des Proletariats umgewälzt wird.“ Die Theorie wird „der Bewegung immer nur den Weg erleuchten, nicht aber ihre Bahnen vorzuschreiben vermögen.“60
Die Bernstein-Debatte griff auch auf die österreichische Sozialdemokratie über, jedoch ohne „dass sie zu einer Reaktion von der Mächtigkeit und weittragenden Konsequenz des deutschen Revisionismus führte.“61 Bei aller Skepsis gegenüber zu viel Theorie sah Adler doch die Notwendigkeit zu einigen Änderungen in der Programmatik. Dreizehn Jahre nach Hainfeld erschien ihm die Zeit gekommen, am Parteitag 1901, auf dem es auch zu einer Grundsatzdebatte der Bernstein’schen Thesen kam, eine Revision des Programms vorzunehmen. Erübrigt hatte sich der das allgemeine Wahlrecht betreffend Passus „ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen“. Im Wesentlichen wurde die marxistische Ausrichtung beibehalten. Einen Niederschlag im neuen Programm fand der Revisionismus durch die Eliminierung der Verelendungsthese, die durch eine differenzierte Formulierung ersetzt wurde . Kautsky, der ebenso wie Bebel als Gast am Parteitag teilnahm, hatte zwar Vorbehalte gegen den neuen Text, gab aber letztlich sein Einverständnis. Bedenken hatten er und Bebel gegen die Ersetzung des Begriffes „gemeinschaftlicher Besitz“ beim Übergang des Eigentums durch „neue Formen genossenschaftlicher Produktion aufgrund gesellschaftlichen Eigentums“62, in der sie ein Zugeständnis an Bernsteins Terminologie erblickte. Ebenso zeigt sich hier aber der Einfluss staatssozialistischer Vorstellungen. Die reformistische Tendenz wird deutlich an der Eliminierung der Aussage, dass „die Arbeiter-Versicherung den Kern des sozialen Problems überhaupt nicht berührt“. Stattdessen wird gefordert, dass „die Arbeiterversicherung einer durchgreifenden Reform zu unterziehen … und unter durchgängiger Selbstverwaltung der Versicherten einheitlich zu organisieren (ist)“.
In der Richtungsdiskussion auf dem Parteitag trat vor allem Engelbert Pernerstorfer, Adlers Jugendfreund und Kampfgefährte beim Widerstand gegen das Sozialistengesetz (1886), als prononcierter Verteidiger von Bernsteins Auffassungen auf, moderater Wilhelm Ellenbogen.63 Wenn Adler in der Theoriefrage weitestgehend die Position der marxistischen Orthodoxie einnahm, so doch unter gleichzeitiger Betonung einer pluralistischen Ausrichtung der Partei, welche die Positionen der vom orthodoxen mainstream Abweichenden ausdrücklich als produktive Beiträge zum Fortschreiten der Gesamtbewegung anerkannte.64 Dass sich in Österreich die Divergenzen zwischen Orthodoxie und Revisionisten nicht zu Parteiflügeln verfestigten, hängt nicht zuletzt auch mit der überragenden Stellung Adlers zusammen. Er betonte zwar immer wieder, dass er seine Rolle nicht als Theoretiker sehe, war aber de facto auch „Cheftheoretiker“ der Partei.65
Theoretisch versuchte er den Konflikt zwischen reformistischer Praxis, welch die Tätigkeit der Partei bis zum Weltkrieg immer stärker prägte, und „revolutionärer Theorie“ dadurch zu lösen, dass er die Streitigkeiten über Reform oder Revolution als „Streitigkeiten um Worte“ bezeichnete. „Wir Sozialdemokraten haben nie anders von uns gewusst als dass wir Reformisten sind, und wir haben nichts anderes gewusst, als dass wir zu gleicher Zeit Revolutionäre sind. Jede Reform ist wichtig und wert jeder Mühe, aber jede Reform ist so viel Wert als Revolution in ihr steckt! Wenn man uns fragt: Revolution oder Reform? So sagen wir Revolution und Reform!“66
Je mehr sich die Organisationen der Arbeiterbewegung – Partei, Gewerkschaft, Konsumgenossenschaften – bis 1914 konsolidierten und auch fühlbare Verbesserungen der sozialen Lage der Arbeiter erzielten, umso stärker wurde der reformistische Zug der Politik auch der österreichischen Sozialdemokratie. Aber nirgendwo erscheint diese Tendenz mit größerer Deutlichkeit als im Ringen um eine Lösung des Nationalitätenproblems. Vordergründig ging es dabei um die Einheit der Partei. Die Sprengkraft des Problems für die Habsburgermonarchie wäre im Sinne der Engels’schen Politikstrategie nutzbar gewesen, um Druck zu erzeugen für die Auflösung der vorbürgerlich-feudalen Strukturen dieses Staatswesens, vor allem durch Forderung nach einem Sezessionsrecht einzelner Teile. Stattdessen war die Erhaltung des Gesamtstaats, wenn auch mit veränderten inneren Strukturen, das Ziel der sozialdemokratischen Reformvorschläge, ohne einen Gedanken daran, wie viel Revolution in einer solchen Reform steckt.
DIE „FINALE KRISE DES KAPITALISMUS“
Wie gezeigt, ordnete Adler die Weiterentwicklung der sozialistischen Theorie den Erfordernissen der politischen Arbeit unter. Auf die Marx’sche These von der finalen Krise des Kapitalismus hatte er in den Jahren nach dem Hainfelder Parteitag wiederholt Bezug genommen,67 diese allerdings zehn Jahre später im Zuge der Revisionismusdebatte vorsichtig relativiert. Es werde „immer darüber diskutiert werden, … ob die kapitalistische Wirtschaft die Rapidität der technischen Entwicklung infolge der Ausdehnung der Märkte noch ertragen könne, oder ob sie, am Ende ihrer Elastizität angelangt, einer Katastrophe zutreibe.“68 Weiter wollte er in seiner Skepsis (vorerst) nicht gehen, um gewisse Kerngruppen und Funktionärsschichten der Partei nicht zu irritieren, deren Glaube an die Marx’schen Prognosen unerschüttert geblieben war.
Die junge Generation marxistischer Theoretiker empfand diesen Umgang mit theoretischen Problemen offensichtlich als unbefriedigend. Die „geschichtlicher Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ ist die zentrale Fragestellung des wohl berühmtesten ökonomischen Werks des Austromarxismus, Rudolf Hilferdings Finanzkapital (1910), die auch Otto Bauer unter anderem Blickwinkel in einem in der „Neuen Zeit“ veröffentlichten Beitrag behandelte.
Rudolf Hilferding (1877–1941), 1923.
In seinem Buch Das Finanzkapital, 1910 als Band 3 der Marx-Studien erschienen,69 von Kautsky als „4. Band“ des Kapital auf die höchstmögliche Ebene marxistischer Literatur gehoben, analysierte Hilferding die Entwicklung des Kapitalismus unter den Bedingungen der von Marx vorhergesehenen progressiven Konzentration und Zentralisation des Kapitals sowie dessen Mobilisierung durch Aktiengesellschaften, Banken und Börsen. Angetrieben wird der Prozess durch das Marx’sche Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate als Folge einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals.70 Die wichtigsten unter der Herrschaft des Finanzkapitals eintretenden Strukturveränderungen des Kapitalismus sind die Beschränkung des Wettbewerbs durch Kartelle, letztlich mündend in einem „Generalkar-tell“; das Entstehen einer Lücke zwischen Profiten und Investitionen, die durch Kapitalexporte in noch wenig oder gar nicht vom Kapitalismus erfasste Teile der Welt kompensiert wird (Imperialismustheorie); sowie eine verstärkte Indienstnahme des Staates durch das organisierte Kapital.
Die Konsequenz