Together. Katrin Gindele
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»Sag mal, seit wann weißt du denn von dieser Aufgabe?«, hakte ich plötzlich skeptisch geworden nach, weil ich einen solchen Bericht etwas zu aufwendig fand, für einen einzigen Tag.
Flo zog den Kopf ein, während sie antwortete: »Schon ziemlich lange«, gab sie kleinlaut zu.
Mit zusammengepressten Lippen zischte ich: »Und dann kommst du erst jetzt damit? Am letzten Tag?«
Da es sowieso keinen Sinn machte, meiner Schwester dafür den Kopf zu waschen – nun war das Kind ohnehin schon in den Brunnen gefallen – tat ich ihre Antwort mit einer lässigen Handbewegung ab und deutete stattdessen mit dem Zeigefinger auf das Blatt Papier.
»Wie lange dauert die Winterruhe?«, nahm ich unsere Arbeit wieder auf.
Flo war nicht blöd, sie hatte das Gespräch zwischen Mutter und mir natürlich mitbekommen.
»Sechs volle Monde«, gab sie grinsend zum Besten.
»Dann schreib das so auf«, kommandierte ich. »Und schreib am besten noch dazu, von wann bis wann.«
Flo ließ den Stift sinken und schaute mich ratlos an. Meine mäßig gute Laune sackte endgültig ab. Das hier würde noch viel länger dauern als befürchtet.
»Vom Herbst bis zum Frühling«, grummelte ich. »Deswegen nennt man es auch Winterruhe.«
Warum, überlegte ich zerknirscht, schreibe ich den ganzen Mist nicht gleich selbst auf, das würde mir zumindest eine Menge Zeit und vor allem auch Nerven ersparen.
Während meine kleine Schwester meine Antwort notierte, hing ich weiter meinen Gedanken nach.
Wenn man meiner besten Freundin Natea glauben konnte, hatte ich das beste Leben von allen, weil meine Mutter etwas ganz Besonderes war. Schon seit unzähligen Generationen wurden die jeweiligen Dörfer im Süden des Landes von Frauen angeführt. In jedem Ort gab es eine sogenannte Vorsteherin. Sie hatte das Sagen und kümmerte sich um die Belange der Anwohner. Dieses Privileg wurde von Generation zu Generation weitervererbt und immer an die Erstgeborene abgegeben. Und tatsächlich bekamen die Vorsteherinnen auch stets zuerst eine Tochter, ehe weitere Kinder geboren wurden, was die Sache natürlich enorm vereinfachte.
Wahrscheinlich hatte der Lichtgott seine Finger im Spiel, anders konnte ich mir die Tatsache nicht erklären, warum jeder Familie, in jeder Generation, immer erst eine Tochter geboren wurde, die später den Posten der Vorsteherin übernahm.
Jedenfalls wurde ich von all meinen Freunden darum beneidet, weil ich eben genau diese Tochter war.
Meine Familie lebte in Wohlstand. Wir wohnten im größten Haus, welches etwas außerhalb auf einer kleinen Anhöhe stand. Wir besaßen die schönste Pferdekutsche und die meisten Tiere. Wo meine Mutter auch auftauchte, wurde sie herzlich willkommen geheißen, unsere ganze Familie war im Dorf hoch angesehen und jeder wollte mit mir befreundet sein.
Die Schattenseiten konnte oder wollte dabei niemand sehen.
Auf mir als Erstgeborene lastete ein enormer Druck. Von klein auf hatte ich meinen Freunden gegenüber ein Vorbild sein müssen. Nie hatte ich mit den anderen Kindern draußen spielen dürfen, weil meine exquisiten Kleider nicht schmutzig werden sollten. Meine langen blonden Haare waren immer korrekt frisiert, das Gesicht sauber, meine Haltung aufrecht gewesen. Beständig ein Lächeln auf den Lippen, sobald wir das Haus verließen.
Ich habe es gehasst – und hasste es noch immer.
Doch so sehr ich mich auch dagegen auflehnte, ich konnte meinem Schicksal nicht entkommen.
Das würde meine Mutter nicht zulassen. Weil ich in ihre Fußstapfen treten musste. Auch wenn ich das gar nicht wollte.
Während Flo weiter ihre Notizen zu Papier brachte, sinnierte ich darüber nach, inwiefern andere Details aus unserer Geschichte für ihre Aufzeichnungen wichtig sein könnten.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass die Kinder unseres Volkes nur in den Sommermonaten geboren wurden, unabhängig davon, wann eine Zeugung stattfand. Sobald bei der werdenden Mutter die Winterruhe einsetzte, verlangsamte sich ganz automatisch auch die Entwicklung ihres Babys im Mutterleib.
Wurde ein Kind etwa im Frühling gezeugt, kam es nicht im Winter zur Welt, sondern erst nach der Winterruhe.
Ebenso verhielt es sich mit unseren Tieren. Sie begaben sich, wie wir, pünktlich in der letzten Herbstnacht in die Winterruhe. Die gesamte südliche Natur verfiel dann in diesen Schlaf. Hasen gruben sich eine Höhle, Vögel suchten nach einer geeigneten Behausung zum Überwintern.
Für Kranke war die Winterruhe manchmal ein wahrer Segen. Unsere Körper nutzten die Auszeit zur Regeneration, was dazu führte, dass man sich beim Aufwachen wie neugeboren fühlte.
Aber eben nur manchmal.
Für unheilbar Kranke, genauso wie für alte und schwache Bewohner, bedeutete die Winterruhe der Antritt einer letzten Reise. Einige von ihnen würden im nächsten Frühjahr nicht mehr aufwachen. Das war immer ein ganz furchtbarer Moment für die Angehörigen.
Ich für meinen Teil empfand diese Art des Dahinscheidens als wahrer Akt der Güte. Im Schlaf zu sterben, ganz friedlich und ohne Schmerzen, wer wollte nicht so aus dem Leben scheiden?
Nach einiger Überlegung entschied ich mich dagegen und behielt meine Gedanken für mich. Solche Details musste Flo nicht aufschreiben. Die Notizen, die sie bis jetzt gesammelt hatte, genügten völlig.
»Fast fertig«, teilte mir Flo kurz darauf voller Begeisterung mit.
Flüchtig überflog ich das Geschriebene.
»Du könntest zum Schluss noch erwähnen, dass es nach der Winterruhe immer ein großes Wiedersehen am Götterhain gibt«, schlug ich vor.
Flo nickte hastig und kritzelte drauflos.
Der nächste Sommer wird mein Untergang sein, dachte ich über das Unvermeidbare nach, während ich meine kleine Schwester beobachtete.
Mein Magen zog sich zusammen.
Wann immer die Tochter einer Vorsteherin ihren achtzehnten Sommer erreichte, gab es ein riesiges Fest, zudem alle umliegenden Dörfer eingeladen wurden.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Das war kein Fest, sondern ein verdammter Heiratsmarkt!
Das Geburtstagskind sollte sich auf diesem Fest nämlich ihren zukünftigen Ehemann aussuchen, aus all den Familien, die aus den umliegenden Dörfern angereist waren.
Alle Jungs führten sich dabei auf wie liebestolle Idioten. Jeder wollte unbedingt der Auserwählte sein, weil es selbstredend eine große Ehre war, wurde man der Gemahl einer Vorsteherin. Immerhin führte besagter Mann ein sehr privilegiertes Leben, genoss alle Annehmlichkeiten und das hohe Ansehen in der Gemeinde.
Nachdem die Tochter der Vorsteherin ihre Wahl getroffen hatte, gab es eine Zeit des Kennenlernens, die ungefähr drei Sommerphasen andauerte. In besagter Zeit durfte sich das zukünftige Paar immer wieder treffen, um herauszufinden, ob eine Ehe auch wirklich funktionieren