Schrottreif. Isabell Morf

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Schrottreif - Isabell Morf

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zu verschlafen oder gar krank zu werden. Aber es ging gut. Am allerersten Tag war zwar ihr erster ›Kunde‹ ein Vertreter gewesen, der ihr eine Kaffeemaschine andrehen und sie, als sie ablehnte, zu Jesus bekehren wollte. Sie entkam der Situation elegant mithilfe einer Nachbarin, die ihr gerade im richtigen Moment zur Neueröffnung ein Stück Kuchen vorbeibrachte. Neben der Stammkundschaft aus dem Quartier, die dem Laden treu blieb, zog sie neue Kunden an. Im ersten Sommer arbeitete sie manchmal bis 23 Uhr oder kam am Montag, ihrem freien Tag, für ein paar Stunden. War das zu Zeiten ihres Vaters genauso gewesen? Es war ihr früher gar nicht aufgefallen, wie viel er gearbeitet hatte. Im zweiten Sommer war klar, dass sie jemanden anstellen musste. Nach drei Jahren bewarb sie sich um ein größeres Ladenlokal, ganz in der Nähe, aber in einer besseren Lage, gleich gegenüber der Tram- und Bushaltestelle Schmiede Wiedikon und neben einem Supermarkt, und zog um. Jetzt konnte sie ein breiteres Sortiment führen, mehr Auswahl anbieten, ein größeres Lager haben. Es war nicht mehr so eng zu zweit, und nach einigen Jahren begann sie, einen Anlehrling oder Lehrling auszubilden.

      Seppli war verschwunden und tauchte auch nicht auf, als Valerie ihn rief. Das konnte nur eines bedeuten: Er hatte irgendwo im Buschwerk am Hang des Sihlbergs etwas zu fressen gefunden. Wahrscheinlich etwas äußerst Unappetitliches. Hoffentlich nichts, was zudem unbekömmlich war. Sie hatte keine Lust, sich mitten in der Nacht um einen kotzenden Hund zu kümmern. Endlich kam er angeschlichen und sie nahm ihn an die Leine. Sie zerrte ihn mit der einen Hand von einer offensichtlich wunderbar riechenden Stelle weg, während sie mit der anderen ihr Rad schob, und überquerte die Bederstrasse.

      Zu Hause duschte sie, schrubbte sich Reste von Karrenschmiere von den Händen, zog sich etwas Bequemes an und warf tiefgefrorenes Gemüse und etwas Rindfleisch in den Wok. Dazu legte sie eine CD ein. Stockhausen. Mit dieser Vorliebe konnte sie in ihrem Bekanntenkreis keine Begeisterung wecken. Aber hier störte es ja niemanden. Valerie lebte seit vier Jahren allein, seit Lorenz ausgezogen war, mit dem sie zehn Jahre zusammen gewesen war. Sie hatte den Gedanken, sich eine kleinere Wohnung zu suchen, aufgegeben und sich großzügig in den viereinhalb Zimmern eingerichtet. Als besonderen Luxus empfand sie ihre Bibliothek. Ins kleinste Zimmer hatte sie alle Bücherregale gestellt, dazu einen bequemen Sessel und eine Stehlampe. Hier verbrachte sie am liebsten ihre Abende, wenn sie nicht ausging oder Besuch hatte. Zum Essen öffnete sie sich ein Bier und schaltete den kleinen Fernseher ein, ohne richtig hinzusehen. Sie hatte keine Lust, an die Szene mit Angela Legler zu denken, und die dissonante Musik von Stockhausen erinnerte sie zu sehr daran. Der Krimi im Fernsehen allerdings brachte ihr die verdammten Diebstähle im Laden ins Gedächtnis zurück und daran wollte sie jetzt genauso wenig denken. Als sie den leeren Teller von sich schob, näherte sich Seppli, der ihre Zeichen zu deuten wusste. Das Tier hatte ein langes Stück robustes Segeltuch im Maul und wollte, dass Valerie am einen Ende zog und er gefährlich knurrend am anderen, dass sie sich dazu im Kreise drehte und Seppli in die Luft gehoben wurde und rundherum flog. Sie tat ihm den Gefallen.

      Sie ging, wie meist, früh zu Bett und schlief rasch ein. Plötzlich schreckte sie hoch. Das Telefon. Jetzt? War schon Morgen? Nein, der Wecker zeigte halb drei. Es musste etwas passiert sein. Verschlafen hastete Valerie in den Flur und hob ab.

      »Ja, hallo?«

      Es blieb still. Falsch verbunden, dachte sie, halb erleichtert, halb empört. Sie fragte nochmals nach: »Was ist denn, wer ist da?«

      »Hallo, Valerie«, flüsterte jetzt eine Stimme und kicherte. »Hab ich dich geweckt?«

      »Was soll das?«, rief Valerie, plötzlich wach, scharf. »Wer ist da?«

      »Das wüsstest du wohl gerne.« Nun war kein Kichern mehr in der Stimme. »Du Miststück. Du wirst noch ganz anders von mir hören. Kannst dich freuen.«

      Dann wurde aufgelegt. Valerie saß starr. Was war das? Falsch verbunden war der Typ nicht gewesen, er hatte ihren Namen genannt. War es überhaupt ein Mann gewesen? Nicht eindeutig festzustellen, wenn jemand flüsterte. Vermutlich schon. Woher war der Anruf gekommen? Sie tippte auf dem Display herum, bis sie die Anrufernummer vor sich hatte. Rief die Auskunft an. Aus einer Telefonzelle. Hätte sie sich ja denken können. Aber wie soll man klar denken, wenn man mitten in der Nacht einen Drohanruf erhält? Wer konnte das sein? Jemand, den sie kannte? Kaum möglich. Jemand, der sich irgendeine beliebige Telefonnummer, die einer Frau gehörte, herausschrieb und sich einen Spaß daraus machte, sie zu erschrecken? Oder jemand, der sie kannte? Ein Kunde, der etwas gegen sie hatte? Nein, das war absurd. Der ganze Anruf war absurd.

      Valerie vergewisserte sich, dass die Wohnungstür abgeschlossen war. Ab und zu vergaß sie es, sie war keine ängstliche Person. Sie stellte die Lautstärke des Klingeltons auf null und ging wieder zu Bett. Eine Weile lag sie noch wach, bevor die Müdigkeit siegte. Am nächsten Morgen galt ihr erster Blick dem Telefon. Es war kein weiterer Anruf eingegangen. Valerie beschloss, die Sache ad acta zu legen. Lohnte sich nicht, sich wegen eines Spinners aufzuregen. Aber ein ungutes Gefühl blieb.

Mittwoch, 1. Woche

      1. Teil

      Markus war schon da, als Valerie gegen 8.45 Uhr in den Laden kam. Er war dabei, die Räder, die repariert werden mussten, in den Hinterhof zu stellen, damit im Verkaufsraum mehr Platz für die Kunden war. Valerie half ihm, schaute sich die Reparaturzettel kurz an und bestimmte, welche Aufträge Markus sich zuerst vornehmen sollte.

      »Wechsle als Erstes dieses Vorderrad aus. Ich habe Frau Bäbler versprochen, dass sie das Velo heute Mittag abholen kann. Die hat Glück gehabt, dass sie sich nur die Hand leicht verstaucht hat, als sie in den Abfallcontainer gedonnert ist.«

      Das Velo hatte weniger Glück gehabt, das Vorderrad war zu einer hässlichen Acht verbogen. Markus griff sich das Rad, blieb unschlüssig stehen, schaute Valerie an, aber sagte nichts.

      »Na?«, sagte Valerie.

      »Ich wollte etwas fragen«, begann Markus.

      »Ja?«

      »Wir haben doch keine Putzfrau mehr«, bemerkte Markus.

      »Ja?«, wiederholte Valerie leicht ungeduldig.

      »Ich wüsste vielleicht eine.«

      Aha. Markus brachte es langsam auf den Punkt.

      »Meine Freundin. Sie könnte einen Job brauchen. Sie hat schon geputzt. Weiß, was man beachten muss. Hat bei einer Reinigungsfirma gearbeitet.«

      »Warum nicht«, meinte Valerie. »Sie kann sich mal vorstellen kommen. Wie alt ist sie? Wie heißt sie?«

      »33. Sibylle.«

      Bloß kein Wort zu viel, ärgerte sich Valerie. Typisch.

      »Okay«, sagte sie rasch. »Mach einen Termin aus für nächste Woche. Am besten an einem Vormittag.«

      Markus nickte und wandte sich seiner Reparatur zu.

      Markus Stüssi, Anfang 30, groß und breit gebaut, arbeitete seit zweieinhalb Jahren bei FahrGut. Valerie wurde nicht ganz schlau aus ihm. Er war sehr zugeknöpft, erzählte kaum etwas von sich, arbeitete meist stumm vor sich hin und machte den Mund nur auf, wenn es um die Arbeit ging. Dann allerdings zeigte sich, dass er durchaus reden konnte. Er erklärte Luís den Unterschied zwischen zwei Bremssystemen oder wies eine Kundin auf die Vor- und Nachteile einer Nabenschaltung im Vergleich zu einer Kettenschaltung hin. Valerie war so weit zufrieden mit ihm. Er war vielleicht nicht besonders intelligent, ein langsamer Denker, Initiative und Ideen erwartete sie nicht von ihm, aber er war ein geschickter Mechaniker und er hatte Kraft, was sie praktisch fand, denn ihre Körperkräfte waren, bei 1,66 Meter, 53 Kilo und einer Abneigung gegen Krafttraining, eher begrenzt.

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