Schrottreif. Isabell Morf
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»Ich habe wieder mal Strandgut abzuliefern«, sagte sie zu Polizistin Elmer, die Dienst hatte. Man kannte sich. In den FahrGut war schon eingebrochen worden, Valerie hatte einmal bei einem Kaffee über die Diebstähle gejammert, und vor ein paar Monaten hatte sie einen verwirrten alten Mann, der nicht ins Altersheim zurückfand, auf der Wache abgeliefert. Außerdem war Zita Elmer dafür zuständig, den Drittklässlern im Quartier auf dem Pausenplatz des Ämtlerschulhauses das Velofahren beizubringen und sie in die Verkehrsregeln einzuweisen. Dabei fuhr sie eines der Falträder, das die Stadtpolizei im FahrGut für diesen Zweck gekauft hatte.
Zita Elmer war Ende 20, groß, etwas massig, hatte kurzes blondes Haar. Ursprünglich Krankenschwester, hatte sie bald nach der Ausbildung umgesattelt, die Polizeischule absolviert, sich in Zürich beworben und einige Jahre Streifendienst gemacht. Auf der Polizeischule hatte sie ihren Mann kennengelernt, der in Höngg Dienst tat. Seit fünf Jahren arbeitete sie in Wiedikon, seit einem Jahr leitete sie die Wache. Sie war gerne Polizistin. Krankenschwester war sie geworden, weil sie es mochte, mit Menschen zu tun zu haben und einen lebhaften Betrieb liebte. In einem Spital passierte etwas mit den Menschen. Sie wurden krank eingewiesen und verließen den Ort meist wieder gesund. Viele Patienten mochten sie, weil sie optimistisch und auf eine etwas resolute Art einfühlsam war. Sie konnte beispielsweise sehr sanft Blut abnehmen. Andere mochten sie nicht. Das waren diejenigen, die mutlos waren, sich kampflos ihrer Krankheit ergaben. Diese Patienten empfanden sie als grob. Nach wenigen Jahren fühlte sie sich nicht mehr wohl in der Spitalwelt. Sie bewegte sich in einer permanenten Ausnahmesituation, so kam es ihr zumindest vor, aber sie wollte doch mitten im Leben stehen, dort, wo etwas los war. So wurde sie Polizistin. Sie hatte keine Angst vor Hektik, vor sich schnell verändernden Situationen, vor Konflikten. Ob sie sich nachts mit jugendlichen betrunkenen Partygängern herumschlug, die sie beschimpften, oder ob sie sich nachmittags einer alten verängstigten Frau annahm, der auf dem Heimweg die Handtasche entrissen worden war – beides waren Facetten ihrer Arbeit, auf beide Situationen konnte sie sich sehr rasch einstellen. Die Arbeit im Quartier gefiel ihr. Sie wurde meist mit kleineren Delikten und Regelverstößen konfrontiert, mit Situationen, in denen die alltägliche Ordnung verletzt wurde und es ihr oblag, sie wiederherzustellen. Aber sie betrachtete diese Arbeit nicht als oberste Stufe ihrer Karriereleiter, denn sie war ehrgeizig. Zwei, drei Jahre würde sie weitere Erfahrungen sammeln, bevor sie sich beim Kommissariat Ermittlung oder beim Kommissariat Fahndung bewerben wollte.
Als die beiden kleinen Mädchen die große Frau in der Uniform sahen, weinten sie noch mehr. Aber Zita Elmer wusste bereits Bescheid.
»Ein Problem weniger«, sagte sie zufrieden. Sie liebte es, Fälle zügig zu lösen. »Der Vater der Kleinen hat angerufen. Drei und vier Jahre alt sind sie. Irena und Diana. Eben erst in der Schweiz eingetroffen. Durch die halb offene Wohnungstür abgehauen. Albanisch hätten Sie mit ihnen reden müssen. Na ja, kann ich auch nicht.« Sie wandte sich an die Mädchen. »Offenbar seid ihr zwei fixe kleine Abenteurerinnen, Irena und Diana. Muss der Papa halt besser auf euch aufpassen, was?«
Die Mädchen, die aufmerkten, als ihre Namen fielen, schauten mit großen Augen die fremde Frau an und wurden still.
Zita Elmer griff zum Telefon und rief den Vater an. Sie reichte das Telefon den Kindern weiter, die, ohne selbst den Mund aufzutun, hineinhorchten.
»Er wird gleich kommen«, sagte Elmer. »Happy End in Sicht.«
Valerie und Zita Elmer unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann verabschiedete sich Valerie. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie Elmer von dem Drohanruf erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. Bevor Elmer hier gearbeitet hatte, war Beat Streiff da gewesen. Er hatte auf demselben Stuhl gesessen, der nun ihr Platz war. Auch der Schreibtisch war derselbe. Vor ein paar Jahren hatte Streiff zur Kriminalpolizei in der Zeughausstrasse gewechselt. Valerie schob den Gedanken an ihn rasch beiseite.
2. Teil
Valerie kam aus einer kurzen Mittagspause zurück. Spaziergang mit Seppli, eine Cola und ein Sandwich mit scharfer Salami und roter Paprika aus dem Paradicsom nebenan, im Gehen verzehrt. Sehr ungesund, hätte Lorenz, der Arzt war, erklärt. Aber der hatte ja schon länger nichts mehr zu sagen. Zudem, dachte Valerie trotzig, könnte ich auf das Salatblatt zwischen Brötchen und Salami und auf das Stück Paprika verweisen. Trotzdem kaufte sie rasch am Marktstand vor der Migros einen Apfel. Dann schob sie sich einen Nikotinkaugummi in den Mund. Sie war von Gauloises blau umgestiegen, als Lorenz ihr in einer ihrer innigeren und leidenschaftlicheren Phasen gesagt hatte: ›Ich verzeihe es dir nie, wenn du mit Mitte 50 Krebs bekommst.‹ Das hatte Valerie imponiert. Nun, mittlerweile hatte es sich so entwickelt, dass Lorenz sich kaum darum scheren würde, was mit ihr Mitte 50 sein würde. Ihr Kontakt war nach der Trennung abgerissen. Aber beim Kaugummi war sie geblieben.
Markus war dabei, einem Kunden die neu eingetroffenen Cannondale-Mountainbikes vorzuführen. Der Kunde, ein junger Mann, schien sich auszukennen, fragte nach technischen Details, verglich die verschiedenen Modelle miteinander. Valerie deutete an, dass sie ins Büro hinunterginge und man sie, wenn nötig, rufen könne.
Sie wollte Anzeigen entwerfen. Sie inserierte regelmäßig im Tagblatt, im Quartier-Anzeiger, im Tachles, in der Zeitung der orthodoxen Juden – da in Wiedikon ein großer Teil der jüdisch-orthodoxen Bevölkerung Zürichs wohnte – und in der Frauenzeitung. Lange hatte es ihr Spaß gemacht, in ihren Werbetexten mit ihrem Namen zu hantieren, Wortspiele zu kreieren. Aber das verbrauchte sich mit der Zeit. Gewisse klassische Slogans behielt sie bei, schlichte Aussagen wie ›Gute Räder bei Gut‹. Aber sie fand, sie musste ihre Palette etwas erweitern, und hatte vor, sich einem Brainstorming zu überlassen. Nach unzähligen durchgestrichenen Ideen, zerrissenen Blättern, verworfenen Slogans textete sie schließlich ›Warum wie auf Nadeln sitzen? – Satteln Sie Ihr Fahrrad bei uns‹, ergänzt durch ›Gute Sättel bei Gut‹, in kleinerer Schrift am unteren Rand.
Sie hörte ein leises Klopfen und sah auf. Durch die Glasscheibe erblickte sie Adele Goldfarb und winkte sie herein.
»Störe ich?«, fragte Adele und streichelte rasch Seppli.
»Nein, komm nur, ich bin gerade fertig geworden.«
Adele war zehn Jahre alt, wohnte in der Nachbarschaft und kam auf dem Heimweg von der Schule ab und zu bei ihr vorbei. Valerie hatte das Mädchen gern und freute sich, wenn sie kam. Sie war fröhlich, selbstsicher, aufgeweckt, wollte alles wissen. Die Porzellanmöwe fand sie toll. Valerie kannte drei ihrer älteren Brüder, die ebenfalls bei ihr ein und aus gegangen waren; Sruli, Alexander und Aron. Alle mit Löckchen vor den Ohren, kleinen Käppchen, einer Portion unbekümmerten Neugier und großer Diskussionslust. Es war ihnen bewusst, dass bei ihnen zu Hause andere Werte vertreten wurden als außerhalb, und sie erprobten gerne ihre Weltanschauung an den abweichenden Auffassungen von Valerie. Alexander hatte die Plastikdinosaurier in der Kinderecke entdeckt und wollte wissen, was das für Tiere seien. Valerie hatte ihm erzählt, dass sie vor über 100 Millionen Jahren auf der Erde gelebt hätten, dass sie riesengroß gewesen seien und man nicht genau wisse, warum sie ausgestorben sind. Das Alter der Erde war für Alexander aber nicht verhandelbar gewesen. Gott hat die Erde vor 5.766 Jahren geschaffen, da konnte es nicht vor viel, viel längerer Zeit Dinosaurier gegeben haben. Sicher nicht.
Valerie, die nicht viel über die jüdischen Bräuche wusste, unterhielt sich gern mit den Kindern. »Warum dürft ihr nicht gleichzeitig Milch und Fleisch essen?«, fragte sie deshalb eines Tages Alexander.
Der wusste Bescheid. »In der Tora steht, dass man ein Böcklein nicht in der Milch