Schrottreif. Isabell Morf

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Schrottreif - Isabell Morf

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waren ihre Schüler gewesen. Sie wohnte in der eigenen Wohnung und dachte nicht daran, ins Altersheim zu ziehen. Zweimal pro Woche lieferte Pro Senectute Mahlzeiten, die Frau Zweifel nur aufzuwärmen brauchte; eine Putzfrau hielt die Wohnung sauber und bügelte, und wenn sie krank war, bestellte sie jemanden von der Spitex. Zudem hatte ihr Hausarzt, Doktor Hefti, seine Praxis im selben Haus. So kam sie sehr gut zurecht, obwohl ihr diese und jene Altersgebrechen zu schaffen machten. Aber im Kopf war sie völlig klar. Und dann gab es noch Raffaela, ihre Großnichte. Salome Zweifel war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Aber Raffaela, die Enkelin ihres Bruders, schaute regelmäßig bei ihr vorbei.

      »Guten Morgen«, grüßte sie, »haben Sie gerade viel zu tun?« Obwohl sie Valerie als Siebenjährige gekannt hatte, nahm sie es sich nicht heraus, sie zeitlebens zu duzen, und Valerie war ihr dankbar dafür.

      »Nein«, erwiderte Valerie, »heute läuft nicht viel.« Sie hatte ein Rad in den Bock eingespannt, dessen Lenker sie auswechseln musste. Es war ein Citybike, das statt eines sportlichen Mountainbike-Lenkers einen bequemen Hollandlenker bekommen sollte. Sie rückte für Frau Zweifel einen Stuhl zurecht. »Ich freue mich, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten.«

      Markus und Luís waren im hinteren Teil der Werkstatt zugange. Frau Zweifel grüßte unsicher nach hinten. Luís lächelte, Markus reagierte nicht. Typisch, dachte Valerie genervt, dieser Stockfisch.

      Valerie hatte eben eines der Bremskabel des Vorderrads mit einem Inbusschlüssel gelöst, nun griff sie nach einem Gabelschlüssel und machte sich am Schaltkabel des Hinterrads zu schaffen. »Wie läufts denn in Ihrem Kurs?«

      »Gut«, gab Frau Zweifel Auskunft. »Das ist gar nicht so schwierig mit diesem Internet, wie ich gedacht hatte. Das war eine gute Idee von Raffaela.«

      Valerie lachte. Sie kannte Frau Zweifels Großnichte nur flüchtig, denn Raffaela Zweifel war keine Radfahrerin. Sie war eine gut aussehende junge Frau Mitte 20. Typ Partygirl. Fröhlich, lebenslustig – und bewundernswert souverän auf ihren High Heels. Raffaela Zweifel, die in der Nähe als Sekretärin arbeitete, war weit davon entfernt, sich um ihre Großtante zu kümmern, indem sie sich mit ihr zum Kuchenessen traf. Das hätte sie zweifellos gelangweilt. Sie hatte sie dazu angestiftet, sich einen Laptop zu kaufen, und sie eifrig in dessen Benutzung eingeführt. ›Schreib deine Erinnerungen auf‹, hatte sie vorgeschlagen, ›Geschichten, wie es früher war.‹ Kurze Zeit später hatte sie ihr einen Internetanschluss eingerichtet und sie zu einem Internetkurs für Senioren angemeldet. Als Geschenk zum 80. Geburtstag. Das hatte die alte Frau zuerst etwas überrumpelt, aber dann hatte sie Gefallen daran gefunden.

      Alle Achtung, dachte Valerie, während sie sich daranmachte, die Lenkergriffe zu entfernen. Sie fuhr mit einem dünnen Schraubenzieher unter den Gummi und sprühte etwas Kriechöl in den Spalt. Nun ließen sich die Griffe herunterschieben. Valerie wischte das Öl sorgfältig vom Lenker.

      Sie hatte sich schon oft mit der alten Frau unterhalten und wusste, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte. In ihrer Jugend hätte sie gern Mathematik studiert, aber das Höchste, was ihr Vater ihr damals zugestanden hatte, war eine Ausbildung zur Primarlehrerin gewesen. Da hatte sie wenigstens mit Kindern zu tun. Was sie da lernte, konnte sie später bei den eigenen Kindern anwenden. Eigene Kinder hatte sie dann aber nicht. Aber sie unterrichtete gern. Kinder waren so lernfähig, sie lernten von Geburt an, egal ob sie versunken spielten, herumtobten, sich stritten, Fragen stellten oder etwas beobachteten. Sie lernten, weil sie wissen wollten, wie die Welt funktionierte, in der sie lebten. Man musste also so unterrichten, hatte die junge Lehrerin Salome Zweifel gefolgert, dass die Kinder das, was sie ihnen beibrachte, tatsächlich wissen wollten. Und sie hatte Erfolg. Wenn sie ihre Klassen nach drei Jahren an den Viert- bis Sechstklasslehrer abgab, waren sie mit dem Schulstoff regelmäßig weiter, als es der Lehrplan vorschrieb, vor allem im Rechnen. Natürlich änderten sich die didaktischen Methoden im Laufe der Jahrzehnte, aber Salome Zweifel hatte davon nur das übernommen, was ihr sinnvoll erschien. Wenn sie in der Zeitung las, dass immer mehr Leute auch nach acht Schuljahren nicht richtig lesen konnten, schüttelte sie nur den Kopf. Lesen war eine einfache Kulturtechnik. Auch ein nicht sehr gescheites Kind – oder wie man heute sagte, ein Kind aus bildungsfernem Elternhaus – konnte diese erlernen, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Wenn das in acht Jahren nicht klappte, stimmte etwas mit der Schule ganz grundsätzlich nicht.

      Neben dem Unterricht pflegte sie weiterhin ihre geheime Leidenschaft, die Mathematik. Sie verfolgte ihre Entwicklung aus der Distanz, las Artikel darüber auf der Seite Forschung und Technik der Neuen Zürcher Zeitung, verschlang Biografien von Mathematikern, verfolgte die Entstehung der Informatik. Besonders beeindruckte sie Heinz Rutishauser, Informatiker an der ETH, ein Pionier der Computerwissenschaften. Er war im gleichen Dorf aufgewachsen wie sie, war aber einige Jahre älter. Trotz dieser Interessen hatte Salome Zweifel eine Scheu vor den elektronischen Medien. Irgendwie schienen sie einer anderen Zeit anzugehören, in der sie, Salome, zwar lebte, aber mit der sie nicht so eng verbunden war wie mit früheren Zeiten. Die Pensionierung war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Eigentlich hätte sie sich jetzt an der Universität immatrikulieren und Mathematik studieren können. Aber sie traute es sich nicht mehr zu. Ich werde alt, hatte sie gedacht, nein, ich bin alt, die Dinge überholen mich. Es hatte die junge, unbekümmerte Raffaela gebraucht, um sie aus dieser Unsicherheit und Resignation herauszuholen. ›Unsinn, Salome‹, hatte sie resolut erklärt, ›das muss man heutzutage können. Du auch. Und das schaffst du mit links.‹ Und die alte Frau stellte fest, dass sie zwar langsamer lernte, aber nicht so eingerostet war, wie sie gedacht hatte.

      »Raffaela fürchtet, ich könnte mich langweilen, allein in der Wohnung«, erzählte sie nun Valerie. »Sie hat mir von diesen Chatrooms erzählt, in denen man Leute von überall her kennenlernen kann. Zum Beispiel pensionierte Lehrerinnen aus Australien. Oder Leute, die Anagramme basteln. Oder ich könnte im Internet kanadische Zeitungen lesen. Das hat mich natürlich schon interessiert, auch wenn es bald 50 Jahre her ist, seit ich in Kanada gelebt habe. Immerhin war ich zwei Jahre dort.«

      »Waren Sie schon auf der Website von FahrGut?«, wollte Valerie wissen. Sie hängte die Brems- und Schaltkabel, die mit kleinen Köpfchen gesichert waren, aus der Bremse und der Gangschaltung aus. Dann hob sie den Lenker aus dessen Vorbau heraus.

      »Ach, so weit bin ich bisher nicht. Wir haben im Kurs erst das mit diesen E-Mails gehabt. Das ist alles ein wenig verwirrend. Das Internet ist ja offenbar riesig. Wie finde ich denn Ihre Seite?«

      Valerie erklärte es ihr.

      »Ich habe jetzt immerhin eine E-Mail-Adresse«, erzählte Frau Zweifel, »und Raffaela schreibt mir täglich eine kurze Nachricht aus dem Büro. Sie ist wirklich ein liebes Mädchen. Auch wenn sie sich etwas verrückt anzieht. Sie hat diese Stelle nun schon länger als ein Jahr und ihr Chef ist offenbar sehr zufrieden mit ihr. – Ihre E-Mails beantworte ich natürlich. Das ist Ehrensache. Wenn ich täglich nachsehe, vergesse ich zudem mein Passwort nicht. Im Kurs haben sie uns gesagt, wir sollten es auswendig können und nicht notieren. Aber mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

      »Sie müssten eins wählen, das Sie sich gut merken können.« Valerie hatte den Mountainbike-Lenkervorbau, dessen Krümmung nach unten zeigte, aus dem Rahmen entfernt und setzte den neuen Vorbau, dessen Krümmung nach oben verlief, ein. Darauf kam der neue Lenker. Sie erzählte Frau Zweifel die Geschichte aus Umberto Ecos Roman ›Das Foucaultsche Pendel‹. Wie Casaubon am Computer des verschwundenen Jacopo Belbo sitzt und versucht, an dessen Dateien heranzukommen, obwohl er das Passwort nicht kennt. ›Hast du das Passwort?‹, fragt ihn der Computer höflich. Nach stundenlangen vergeblichen Versuchen ist Casaubon mit den Nerven völlig am Ende und er tippt wütend ›Nein‹ ein. Und siehe da, dieses Wort war das Passwort. Frau Zweifel lachte.

      »Ja, so etwas Narrensicheres müsste ich auch haben. Eine Frage, die die Antwort enthält. Eine Eingabeaufforderung, die das Passwort beinhaltet. Ein passendes Wort.« Sie kicherte.

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