Schrottreif. Isabell Morf

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Schrottreif - Isabell Morf

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nie zu spät und war ohne Weiteres bereit, früher zu kommen oder länger zu bleiben. Und bei den Kunden war er beliebt. In letzter Zeit hatte Valerie registriert, dass sich Hugo Tschudi ein wenig mit Markus angefreundet hatte. Das passte ihr nicht ganz, da sie Tschudi misstraute, aber es ging sie im Grunde nichts an, solange der Kunde ihren Mechaniker nicht von der Arbeit abhielt. Und Markus ließ sich nicht ablenken. Valerie wusste, dass Markus es vor einiger Zeit mit einer eigenen kleinen Bude versucht hatte, aber nach zwei Jahren in Konkurs gegangen war. Das wunderte sie nicht. Aber sie wunderte sich darüber, dass er zuvor mit dem Velo ein Jahr durch die Welt gereist war. Er schien ihr so gar nicht der weltoffene, abenteuerlustige Typ zu sein. Doch man konnte wohl ebenso eigenbrötlerisch, wie man Fahrräder instand setzte, durch Litauen, Transnistrien oder Indien pedalen. Selbstverständlich erzählte Markus kaum etwas von jener Reise, obwohl Luís furchtbar gern aufregende Geschichten gehört hätte. Jedenfalls, auch das wusste Valerie, hatte Markus einige Schulden durch seinen Konkurs, die er monatlich abstotterte. Vermutlich brauchte er wenig Geld zum Leben, er hatte eine günstige kleine Altbauwohnung in Örlikon, einem Quartier im Norden der Stadt. Offenbar hatte er nun eine Freundin, es war das erste Mal, dass er sie erwähnte.

      Um fünf Minuten nach 9 Uhr kam Luís angeschlichen. Er kam durch den Hintereingang und versuchte, sich unauffällig in den unteren Stock, wo die Garderobe war, zu verdrücken.

      »He«, Valerie fasste ihn am Ärmel und deutete auf die Uhr.

      »Tschuldigung«, murmelte er schuldbewusst und versuchte, seinen Charme spielen zu lassen. »Konnte nicht schnell fahren. Überall rote Lichter. Und Lastwagen. Konnte nicht überholen. Und auf Trottoir Leute.« Er grinste. »Aber dafür ich jetzt ganz schnell arbeiten, okay, Boss?«

      »Auf dem Trottoir sollst du sowieso nicht fahren«, ermahnte Valerie ihn streng. »Und mit Rotlichtern musst du immer rechnen. Los, zieh dich um.«

      Valerie hatte es in dem Dreivierteljahr, in dem Luís bei ihr eine Anlehre machte, fertiggebracht, dass er nicht oft zu spät kam, mehr aber auch nicht. Seine Sprachkenntnisse ließen immer noch zu wünschen übrig. Er war klein für seine 16 Jahre, mager und trug seine Baseballmütze immer ins Gesicht gezogen. Er war seit fünf Jahren in der Schweiz, hatte hier auch ein paar Jahre die Schule besucht. Valerie war es unerklärlich, wieso er nach dieser Zeit immer noch so schlecht Deutsch konnte. Er war ihr vom Verein Job vermittelt worden; einer Stelle, die versuchte, Jugendliche, die kaum eine Aussicht hatten auf Arbeit oder Lehrstelle, irgendwie unterzubringen. FahrGut war in den diversen Institutionen, die sich um Schulabgänger kümmerten, als gute Adresse bekannt und Valerie beherbergte häufig für ein paar Tage einen ›Schnupperstift‹. Die meisten schickte sie wieder weg. Wenn sie sich zu desinteressiert zeigten, machte sie kurzen Prozess. Luís hatte sie behalten. Er hatte eine phänomenale Begabung für alles Mechanische. Er verstand vermutlich Valeries Erklärungen nie vollständig, aber nachdem er einen Blick auf ein kaputtes Licht geworfen hatte, wusste er innerhalb von Sekunden, wo der Fehler lag. Valerie begann, mit Luís zu arbeiten, ihm Deutsch beizubringen. Luís lernte. Anfangs verwunderte es ihn unendlich, dass ihm Valerie Zeit gab, im Büro zu sitzen und zu lernen, wo er doch fürs Arbeiten bezahlt wurde. Valerie brachte ein Kinderbuch in den Laden, Pettersson und Findus. Bilder und eine einfache Geschichte. Sie hatte befürchtet, das könnte dem 16-Jährigen zu blöd sein, aber Luís hatte Spaß daran. Sie ließ ihn die Geschichte vorlesen, erklärte ihm Wörter und sie lachten zusammen über die Pointen. Vor ein paar Tagen hatte sich Valerie etwas Neues ausgedacht. Sie brachte Luís ein kleines Schreibheft mit, ein Tagebuch.

      »In dieses Heft schreibst du jeden Tag einen Satz. Was du willst. Du kannst etwas beschreiben, das du gesehen, gemacht oder gedacht hast.«

      Er hatte sie nur verständnislos angesehen.

      »Heute Morgen«, sagte Valerie, »hast du einem Velo einen neuen Sattel montiert. Das könntest du zum Beispiel schreiben.«

      Abends zeigte ihr Luís das Heft. Der erste Satz lautete: ›Ich zendriere Rad heute. Und ich schbiele mit Hund.‹

      »Super«, lobte Valerie. Und dann besprach sie mit ihm die Rechtschreibfehler.

      Heute war Luís also wieder mal zu spät dran. In Windeseile hatte er sich in den Arbeitsoverall geworfen und tauchte wieder auf. Er schnappte sich rasch das Fahrrad, das Valerie ihm zuschob, und begann, den platten Schlauch aus dem Reifen zu schälen.

      Valerie deutete auf die Pneuoberfläche: »Wie nennt man das?«

      »Profil«, antwortete er.

      Valerie nickte. Es war heute bedeckt und kühler und das machte sich am Kundenvolumen bemerkbar. Sie ging ins Büro hinunter, um Bestellungen zu erledigen und die E-Mails zu checken. Außerdem hatte sie vor, die Website zu aktualisieren. Der nächtliche Anruf ging ihr wieder durch den Kopf. Unangenehm. Aber falls er sich nicht wiederholte, würde sie nichts unternehmen. Lina, ihrer besten Freundin, würde sie es erzählen.

      Sie wandte sich ihrer Arbeit zu, musterte einen Bestellzettel, den Markus falsch ausgefüllt hatte, und korrigierte. Tja, die Angestellten. Das war ein Kapitel für sich. Valerie hatte zwar schon, bevor sie ein eigenes Geschäft führte, Leitungsfunktionen innegehabt und war Chefin gewesen. Aber sie hatte ihre eigenen Vorstellungen und strebte eine partnerschaftliche Zusammenarbeit an, wollte flache Hierarchien und Frauen fördern. Allerdings hatte sie es nicht gerade geschickt begonnen. Ihre erste Mitarbeiterin war Rahel Aebli gewesen, eine junge Kindergärtnerin, die aus ihrem Beruf raus und eine Männerdomäne entern wollte. Sie war Autodidaktin, brauchte aber noch Anleitung und Ausbildung. Valerie begegnete ihr freundschaftlich, was bedeutete, dass sie es war, die den Abfall raustrug und putzte, ihrer Angestellten aber genauso viel Lohn bezahlte, wie sie selbst bezog. Valerie kaufte einen neuen Kompressor, damit sie nicht von Hand Pneus aufpumpen mussten. Rahel wies darauf hin, dass der Kompressor die Luft verschmutzte und dringend ein Filter anzubringen war. Valerie bastelte einen. Rahel machte darauf aufmerksam, dass ihr Lohn unter dem branchenüblichen Ansatz lag. Zwar bezog sie sich hier auf ausgelernte Mechaniker, übersah das jedoch großzügig. Rahel wies immer wieder auf dieses und jenes hin, verbunden mit dem Zusatz, dass sie von einer weiblichen Chefin etwas anderes erwartete. Bis Valerie sie in einem Zornesausbruch hinauswarf.

      Nach dieser Geschichte war Valerie über die Bücher gegangen. Innerlich. Hatte Lehren daraus gezogen. ›Freunde dich nicht mit dem Personal an‹, hatte sie groß in ihr Tagebuch geschrieben. Von da an änderte sie ihr Verhalten. Sie verwedelte die Tatsache, dass sie die Chefin war, nicht mehr. Und ab diesem Zeitpunkt hatte sie weniger Probleme mit ihren Angestellten. Sie hatte im Laufe der Jahre eine Reihe von Mechanikerinnen und Mechanikern beschäftigt. Bessere und schlechtere. Nettere und weniger nette. Seit zweieinhalb Jahren war es Markus Stüssi. Und im letzten Sommer war Luís Zafar als Anlehrling dazugestoßen. Sie war soweit zufrieden mit der Situation.

      Sie machte sich an die Bestellungen, da rief Luís nach ihr. Es war ein unterdrücktes Lachen in seiner Stimme. Valerie ging hinauf. Aha, wieder eine Situation, in der die Chefin ran musste. Die beiden Männer, Markus und Luís, plus ein älterer Kunde standen in einem Kreis ratlos um zwei weinende kleine Mädchen herum. Die beiden trugen Strumpfhosen, aber weder Schuhe noch Hausschuhe. Ihre Kleidchen waren sicher nicht in der Globus-Kinderabteilung gekauft worden.

      »Sind da gekommen«, Luís deutete auf den Platz, in Richtung Zentralstrasse. »Haben Hand gehalten und weinen. Konnte sie nicht einfach so lassen. Sind klein.«

      Da hatte er sie halt mit hineingenommen. Na ja. Dass lange nicht alle Menschen, die das Leben in ein Fahrradgeschäft spült, irgendetwas mit Rädern zu tun haben oder zu tun haben wollen, wusste Valerie inzwischen aus langjähriger Erfahrung. Lorenz hatte ihr sogar mal vorgeschlagen, FahrGut in ›Strandgut‹ umzubenennen. Diese beiden kleinen Mädchen wollten sicher kein Kindervelo kaufen. Valerie und die Männer versuchten, mit ihnen zu sprechen. Aber die beiden schluchzten bloß. Als Seppli auftauchte, erschraken

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