Hätschelkind. Wimmer Wilkenloh
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Читать онлайн книгу Hätschelkind - Wimmer Wilkenloh страница 4
»Immer langsam mit den jungen Pferden. Erstmal brauchen wir eine richtige Leiche. Es wäre also von Vorteil so schnell wie möglich rauszukriegen, wo sie liegt, wenn sie sich überhaupt noch da befindet, bei dem Sturm da draußen.«
Stephan Mielke blättert den Fotostapel durch und zieht eine Landschaftstotale heraus.
»Hier, damit können wir wahrscheinlich den Fundort bestimmen. Das Foto muss vom Festland aufgenommen worden sein. Da ist im Hintergrund ein Leuchtturm zu sehen.«
»Das ist Westerhever, der Leuchtturm von Westerhever. Das Bild wurde, soweit ich mich nicht irre, von St. Peter- Ording aus aufgenommen.«
»Und was machen wir jetzt?« Stephan Mielke fährt sich mit einer Hand nervös über seinen Bürstenhaarschnitt, mit der anderen trommelt er auf der Stuhllehne und guckt hilfesuchend zu Swensen herüber.
»Am besten, ich informiere erst mal die Einsatzzentrale, damit die einen Streifenwagen vor Ort schicken. Höchste Zeit, dass sich in Ording jemand umschaut. Und du guckst derweil im Computer nach, ob irgendwo eine Frau vermisst wird. Danach müssen Umschlag und Bilder ins Labor.«
Wie auf Kommando springt Stephan Mielke auf und stürzt an seinen PC. Swensen nimmt das Telefon und tritt ans Fenster. Während er dem Beamten in der Einsatzzentrale mit knappen Worten die Situation schildert, sieht er in den schäbigen Hinterhof. Man hört den prasselnden Regen, der auf die Dächer der parkenden Streifenwagen trommelt, bis hier drinnen. Die zerspringenden Wassertropfen legen einen feinen Nebel über den Asphalt. Hinter der Ziegelmauer, die den gesamten Hof eingrenzt, stehen zwei uralte Eichen mit mächtigen Ästen. Die Zweige werden vom Sturm wie Streichhölzer hin und her gepeitscht. Als Stephan Mielke merkt, dass Jan Swensen bereits aufgelegt hat, aber weiterhin aus dem Fenster schaut, dreht er sich ungeduldig um.
»Ist was?«
»Ja, ich frage mich schon die ganze Zeit, warum uns jemand anonym Fotos von einer Leiche zuschickt, anstatt uns gleich telefonisch zu benachrichtigen?«
»Meinst du, das war der Mörder?«
»Mensch Stephan, noch wissen wir gar nicht ob es ein Mord ist. Gibt es einen Poststempel?«
»Ja, der Umschlag ist in Hamburg eingeworfen worden.«
»Hamburg? Wer fotografiert in St. Peter eine Leiche und schickt uns aus Hamburg die Abzüge? Ziemlich merkwürdig, oder?«
* * *
Hajo Peters merkt, dass ihm das Blut vor Aufregung in den Kopf steigt. Er hat die Statur eines Bodybuilders, breite Schultern, die bedrohlich die Nähte des Sweat-Shirt spannen. Mit seinen klobigen Fingern blättert er die Buchseiten einer Theodor-Storm-Biographie durch, bis er auf die Abbildung eines handgeschriebenen Briefes des Dichters stößt. Er betrachtet die einzelnen Buchstaben ausgiebig und öffnet dann die zerfaserten Bänder, die zwei alte Leinendeckel zusammenhalten. Dazwischen liegt ein Stapel vergilbter Blätter Papier. Wie ein rohes Ei entnimmt der bullige Mann den obersten Bogen und beugt sich darüber. Sein Stiernacken quillt aus dem Kragen. Mit ausgebleichter Tinte steht dort in forscher Handschrift: Detlef Dintefaß. Ein Roman von Theodor Storm und klein am unteren rechten Rand: 23. Oktober 1887.
Akribisch vergleicht Peters die Schriftzüge auf dem Papierbogen mit denen, die der abgebildete Stormbrief im Buch zeigt.
Das ist doch hundertprozentig die gleiche Schrift, murmelt er vor sich hin. In den letzten Tagen hat er diese Prozedur wie unter Zwang, oft mehrmals hintereinander, immer und immer wieder durchgeführt. Nur die Echtheit der Schriftstücke würde sich für ihn auch wirklich auszahlen, darüber ist er sich im Klaren. Nicht auszudenken, wenn er wegen einer Fälschung getötet hätte.
Im Grunde ist die ganze Sache ja einfach nur so passiert, denkt er. So eine Chance konnte ich mir schließlich nicht entgehen lassen. Die Sache war einfach eine unglückliche Verstrickung von Umständen. Da kann man nichts machen. Genau genommen ist es nicht meine Schuld.
In seinem Kopf läuft ein Film ab und zwar einer, den er in- und auswendig kennt, Szene für Szene. Es ist zwar erst ein paar Tage her, aber er hat trotzdem das Gefühl alles läge schon Jahre zurück. Es durchzuckte ihn wie ein feuriger Blitz an dem besagten Abend. Er hatte kurz vor Feierabend noch in seinem Laden vorbeigeschaut. Seine Angestellte Edda Herbst war völlig aufgekratzt gewesen, plapperte ihn mit ihren Geschichten voll. Doch in dem Moment, in dem sie erzählte, sie hätte am Abend zuvor auf ihrem Dachboden eine alte Mappe mit handgeschriebenen Zetteln von Theodor Storm entdeckt, war er wie elektrisiert gewesen. Als sie dann auch noch von einem Roman sprach, wußte er, Edda war auf Gold gestoßen! Er konnte seine Gedanken nicht mehr kontrollieren. Alles drehte sich nur noch um ihren Fund und wie er an ihn herankommen könnte.
Edda, die schon einige Zeit bei ihm in der kleinen Videothek arbeitete, war seiner Meinung nach nicht besonders helle. Aber weil sie so verdammt gut aussah, hatte er sie hauptsächlich wegen der Kunden eingestellt.
Genauso wie er sie schon immer eingeschätzt hatte, stellte sich das Aushorchen ihrer Person als nicht besonders schwierig heraus. Auf die Frage, woher sie denn wüsste, dass es sich um einen Roman von Storm handelt, schaute sie ihn verwundert an und sagte dann einfach nur: »Na, ich kann schließlich lesen! Auf dem ersten Zettel steht klar und deutlich: Ein Roman von Theodor Storm.«
In der Husumer Rundschau hatte er in den letzten Jahren schon öfter Artikel über die Theorie eines gewissen Ruppert Wraage gelesen, der immer wieder seine Meinung von einem unentdeckten Roman des Dichters darlegte. Doch die bissigen Kommentare der hiesigen Experten begleiteten jede seiner Veröffentlichungen im Lokalblatt nur mit Hohn und Spott. Er selber hatte die Vorstellung von einem Roman seines Lieblingsdichters immer spannend gefunden. Und jetzt gab es diesen Roman höchstwahrscheinlich wirklich! Edda hatte offensichtlich keine Ahnung, was ihr da so unverhofft in die Hände gefallen war. Sie hatte zwar mal vor ihm damit geprahlt, dass sie über mehrere Ecken mit Storm verwandt wäre, aber das hatte sie wohl nur getan, weil er öfter während der Arbeit von Storm geschwärmt hatte. Selbst den Laden hatte er aus Vorliebe zum Dichter in einem historischen Haus angemietet. Hier im ehemaligen Schützenhaus in der Süderstraße spielte seinerzeit Storms Novelle ›Pole Poppenspäler‹. Doch diese Tatsache hatte sich in keiner Weise positiv auf das Geschäft ausgewirkt. Seit Jahren war seine Videothek, trotz der rassigen Edda als Galionsfigur, ein Schmuddelladen geblieben, der hauptsächlich durch das Pornogeschäft noch nicht in die Pleite geraten war. Er hatte das finanzielle Gekrebse endgültig dicke. Hätte er diesen Roman in seinem Besitz, da war er sich sicher, wäre seine Geldmisere garantiert für lange Zeit gelöst.
Sein endgültiger Entschluss das Manuskript zu entwenden, fiel genau um 21:30 Uhr. Edda war den ganzen Tag im Laden gewesen. Er ging also fest davon aus, dass sie über ihre Entdeckung noch mit niemand anderem gequatscht hatte. Garantiert war er der Einzige, der bis jetzt davon wusste.
Mit dem Satz: »Du weißt ja genau, wie sehr ich Storm liebe!«, begann er mit seiner Strategie und knuffte Edda dabei leicht gegen den Oberarm. »Wie wär’s, wenn ich morgen früh mit frischen Brötchen zum Frühstück komme und du zeigst mir den Roman. Das wäre echt toll von dir!«
Ein feuchter Dunst lagerte auf der Wasseroberfläche im Hafen.
Er vertieft sich in die erste Seite des Romans. Die altdeutsche Schreibweise ist nicht einfach zu entziffern. Sofort ist die Erinnerung an Edda hinter der geschwungenen Tintenschrift verschwunden.
Der wohlgekleidete Mann im dunklen Überrock stand an der Kaimauer und schaute in den Nebel hinaus. Es war so still, dass er weit hinten die kleinen Wellen an die Bordwände der Halligschiffe schwappen hörte. Eigentlich