Hätschelkind. Wimmer Wilkenloh
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Bald ist Neumond, denkt er beiläufig, während eine düstere Ahnung in ihm aufsteigt.
Eins ist sicher, irgendwann werden sie vor der Tür stehen!
In der ersten Zeit war er bei jedem Geräusch zusammengezuckt und dachte, dass die Polizei an seiner Wohnungstür klingeln würde. Doch nichts passierte.
Dabei fühlt er sich bestens präpariert. Er hat sich seine Antworten genau überlegt, ist sie sorgfältig immer wieder durchgegangen.
»Edda, natürlich kenn’ ich Edda Herbst! Die arbeitet schließlich bei mir in der Videothek.«
»Wann ich sie das letzte Mal gesehen hab? Lassen Sie mich nachdenken. Das muss vorige Woche Montag gewesen sein. Genau, das war Montag, der 13. November.«
»Woher ich das so genau weiß? Weil sie am nächsten Tag für drei Wochen in Urlaub gehen wollte. Warum fragen Sie denn das alles?«
»Was, sie ist tot? Das ist ja entsetzlich! Ich kann das gar nicht glauben, die arme Edda. Was ist denn passiert?«
»Ertrunken im Watt. Furchtbar. Sie war so ein fröhlicher Mensch. Was für ein schrecklicher Unfall!«
Edda, Edda, Edda! Scheiße, kriege ich dieses dämliche Weibsbild denn überhaupt nicht mehr aus dem Kopf, denkt er. Während er sich eine zweite Flasche holt, fühlt er Zorn auf die tote Frau. Er setzt die Flasche an den Mund und leert auch sie in einem Zug. Doch die quälenden Bilder der Mordnacht wollen einfach nicht verschwinden.
Da liegt sie wieder deutlich vor ihm, in ihren klitschnassen Klamotten auf dem Bauch in der Wanne, nachdem er das Wasser abgelassen hatte. Über eine halbe Stunde saß er regungslos auf dem Wannenrand und sah auf den toten Körper, aus Angst, Edda könne plötzlich doch noch aufstehen. Dann gab er sich einen Ruck, bewegte langsam seine Hände, dann seine Füße. Er schwankte in die Küche und setzte sich bewusst auf den Stuhl, auf dem er schon vor der Tat gesessen hatte. Wie von selbst entwarf etwas in seinem Hirn einen Plan. Eddas Haus war ein kleines, heruntergekommenes Ziegelsteinhaus, das dicht an dicht mit anderen Häusern an einer Durchfahrtsstraße lag. Glücklicherweise gab es auf der rechten Seite einen kleinen kopfsteingepflasterten Innenhof. Da sah er seine Chance. Er räumte sein Besteck und Geschirr vom Tisch, wusch es ab, verstaute alles im Küchenschrank und verließ das Haus durch den Nebeneingang zum Hof um ihn gründlich zu inspizieren. Ein Auto hatte hier bequem Platz. Die Wand vom Nebenhaus hatte keine Fenster. Ein großes Holztor versperrte den Blick zur Straße. Das müsste klappen. Er wusste, dass Edda allein lebte, von ihrem Freund hatte sie sich vor zirka einem halben Jahr getrennt. Ihr Beziehungsstress war häufig Thema am Arbeitsplatz gewesen. Danach hatte sie nie von einer neuen Affäre gesprochen. Ihre Eltern waren schon vor Jahren bei einem Unfall umgekommen, weshalb sie auch dieses Haus besaß. Bis auf ein paar entfernte Bekannte würde sie nach seiner Überzeugung erst mal niemand vermissen.
Beste Voraussetzungen also, dachte er, um sie bis heute Nacht einfach hier liegen zulassen.
Dass Edda durch irgendeinen blöden Zufall gefunden werden könnte, blieb sein Restrisiko, ein Risiko, dass allerdings nicht sehr groß war. Jetzt brauchte er nur noch den Tag wie immer ablaufen zu lassen. Pünktlich öffnete er seine Videothek. Nachdem er den ganzen Tag seinen Job so unauffällig wie möglich durchgezogen hatte, fuhr er nach Hause. Dort wartete er bis es drei Uhr war. Um diese Zeit, das wusste er genau, sind Husums Straßen so gut wie ausgestorben. Nur das Mondlicht verursachte ihm ein mulmiges Gefühl im Magen. Es überzog die ganze Stadt mit einem weißlich hellen Schein.
Wie ein Leichentuch, dachte er und geriet in der Kurve zum Binnenhafen sogar einige Sekunden in Panik, dass man ihn heimlich beobachten könnte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er bog rechts in die Deichstraße, stoppte und schaute sich um. In der gesamten Häuserreihe waren alle Fenster dunkel. Niemand war weit und breit in Sicht. Er stieg aus, öffnete das Holztor und bugsierte seinen alten Bundeswehr-Jeep rückwärts in Eddas Hof.
Er erwacht gegen neun Uhr völlig verdreht auf dem Sofa. Ein stechender Schmerz zieht sich vom Nacken hinauf in seinen Hinterkopf. Benommen schleicht er ins Bad und sieht ein bleigraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen, das ihm aus dem Spiegel entgegen blickt. Erst als er seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl hält, kommt er langsam wieder zu sich.
Dreißig Minuten später parkt er seinen Wagen in der Süderstraße, genau gegenüber der Videothek. Als er die Eingangstür öffnet, steckt die ›Husumer Rundschau‹ schon im Briefschlitz. Der beleuchtete Getränkeschrank wirft ein fahles Licht an die gegenüberliegende Wand. Er legt die Zeitung auf den Tresen, dessen Umrisse er im Halbdunkel gerade noch erkennen kann und nimmt sich eine Fanta. Dann knipst er Licht an und erschrickt unwillkürlich. Die Räume haben sich in seinen Traum aus der vergangenen Nacht verwandelt. Mit einem mulmigen Gefühl fingert er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt die Tresenschublade auf. Sein Herz pocht bis zum Hals. Neben dem Kassenbuch liegt seine ›Walther 7,65 mm‹, wie immer. Auch wenn er eigentlich nichts anderes erwartet hatte, braucht er längere Zeit, bis er sich wieder ganz beruhigt hat. Er ist zutiefst erstaunt, wie schnell ihn so ein Hirngespinst aus der Bahn werfen kann. Irgendwie muss er sich jetzt selbst etwas beweisen. Demonstrativ durchquert er den gesamten Laden bis in den hintersten Raum und zurück.
So, das Thema ist endgültig abgehakt, denkt er, nimmt eine Getränkedose und reißt sie auf. Als er sie gerade an den Mund setzen will, fällt sein Blick auf die Titelseite der Zeitung.
Mädchen bleibt verschwunden. Trotz intensiver Suche der Flensburger Polizei gibt es weiterhin kein Lebenszeichen von der kleinen Beatrix aus Glücksburg.
Ich werde nie begreifen, wer so was fertig bringt! Wie kann man sich nur an einem kleinen Mädchen vergreifen, denkt er, als wenn jemand in seinem Kopf einen Hebel umgelegt hat.
Solche Menschen sind doch krank. Der wusste 100%ig, was er gemacht hat.
Aufgebracht schlägt er die Zeitungsseiten um. Er freut sich über seine Wut, sie erzeugt ein gutes Gefühl im Bauch.
Was ist meine Tat gegen so etwas Abscheuliches. Ich bin da schließlich nur wegen ein paar fehlender Kröten reingeschlittert. Und überhaupt ist das Ganze sowieso nicht zu vergleichen!
Da werden seine Gedanken jäh gestoppt. Gerade hat er den Lokalteil der Zeitung aufgeschlagen. Knallhart springt ihm seine Realität ins Auge. Ein Bild von Edda.
Wer kennt diese Frau? Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an die Husumer Kriminalpolizei.
Woher haben die ein Bild von Edda, schießt es ihm durch den Kopf. Wieso steht da nichts von einer Leiche? Wenn sie ein Bild haben, müssen sie doch eine Leiche haben!
Fragen, die auf ihn einstürmen, aufdringlich und beklemmend zugleich. Doch so sehr er auch nachdenkt, logische Antworten bleiben ihm verborgen. Hilflos trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte. Seine Schläfen schmerzen. Er fühlt ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Schultern. Alles, was er sich zurechtgelegt hatte, kann er ab sofort vergessen. Ihm ist klar: er muss unbedingt handeln. Wenn er nicht in Kürze die Polizei informiert, wird man über kurz oder lang rauskriegen, dass Edda bei ihm angestellt ist. Dann tauchen sie auf und werden ihm sehr unangenehme Fragen stellen.
Also, los! Angriff war noch immer die beste Verteidigung!
Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer der Husumer Kriminalpolizei.
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