Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos
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Читать онлайн книгу Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos страница 3
»Ja«, nickte Inna erleichtert.
»Ein Freund von mir besitzt eine alte Halle. Er möchte sie umbauen lassen. Ich hätte gestern vorbeischauen und sie mir ansehen sollen.«
»Ja.«
»Ja? Heißt das, du fährst vorbei?«
»Nein.«
»Nein?« Grunewald stöhnte ungeduldig. »Du musst. Es ist wichtig. Ich habe es ihm versprochen. Fahr hin, wirf einen kurzen Blick drauf.«
Inna schwieg.
»Inna, ich muss meinem Freund …«
»Ich fahre vorbei.«
Grunewald seufzte erleichtert. »Und rufst mich anschließend an.«
»Nein.«
»Nein?«
»Es braucht keinen weiteren Anruf.«
»Also wirst du nicht vorbeifahren?«
»Die Adresse per E-Mail.«
»Ich habe nur die Koordinaten.«
»Dann eben die.«
Vielleicht würde Inna doch vorbeifahren, aus Neugier, auch wenn es fast kein Bauwerk in der Umgebung gab, das sie nicht schon kannte.
Sie öffnete Grunewalds E-Mail und übertrug die Koordinaten.
Grunewald räusperte sich ungeduldig. »Es ist dringend. Heute noch. Du musst heute noch hinfahren. Jetzt. Für den späten Nachmittag ist ein Schneesturm angekündigt, besser, du machst dich sofort …«
Inna legte auf.
Sie fröstelte.
Ihre gesamte Kindheit hatte aus dieser unheilvollen Gänsehaut bestanden. Nachmittags, wenn sie die dunklen Flure entlanggeschlichen war, hatte sie sich wie ein Kleidungsstück über ihre Haut gelegt. Allein in dieser riesigen Burg mit schweren Vorhängen und schwarzen Ecken. Allein mit den übergroßen Skulpturen, die nachts zum Leben erwachten, hervorgekrochen kamen und bedrohlich wisperten. Gierige Schatten, die nach ihr langten, sich geisterhaft durch die Gemäuer bewegten.
Inna schloss ihre Augen.
Geisterhaft.
Sie arbeitete bis zum späten Nachmittag, war so vertieft, dass sie den Wetterumschwung erst bemerkte, als sie die schwere Tür öffnete. Ihr schlug eine gewaltige Bö entgegen, warf Schnee vor ihre Füße. Inna hüpfte hinaus. Ihr Auto war eingeschneit, es hatte Unmengen Neuschnee gegeben. Sie zog ihren Kopf ein, schwere Schneeflocken wurden aus grauen Wolken geschüttelt. Inna hielt schützend die Hand vor ihre Augen, die Tannen verneigten sich tief in alle Richtungen. Sie kämpfte sich über den Parkplatz zu ihrem Auto, befreite das Schloss, weil die Funkfernbedienung nicht funktionierte, riss die Wagentür auf und quetschte sich umständlich auf ihren Sitz. Schnee fiel in ihren Schoß. Es war dunkel und still im Auto. Sie schaltete das Licht ein, sah ihre Atemluft in Intervallen weiß und hektisch herausströmen.
Inna startete den Motor, die Scheibenwischer gaben nur ein hilfloses Summen von sich. Mit klammen Fingern holte sie ihr Telefon hervor. Kein Empfang, nicht einmal ein einziger Balken zeichnete sich ab.
Sie ließ den Motor laufen, stapfte zur Fabrikhalle zurück, zwängte sich durch die schwere Tür. Ihre Füße waren nass und kalt, ihre Finger steif und ungelenk.
Etwas ließ sie stutzen.
Sie war denselben Weg hin- und wieder zurückgelaufen. Sie war sich sogar sicher, dass sie in dieselben Fußspuren getreten war. In ihre eigenen, in welche sonst, es hatte keine anderen gegeben.
Oder doch?
Inna trat hinaus, blinzelte ratlos, schaute sich um. Es dämmerte bereits. Niemand war zu sehen.
Aber da waren Fußspuren.
Fußspuren eben.
Von einem Spaziergänger. Jemandem, der Schutz gesucht, Licht gesehen hatte.
Was war schon dabei?
Inna schluckte nervös. Das ungute Gefühl von heute Morgen kroch in ihr hoch.
Sie hastete zu ihrem Wagen, kletterte auf den Sitz. Sie suchte hektisch nach dem Schalter für die Zentralverriegelung. Ihre steifen Finger wollten nicht gehorchen, sie drückte zweimal, ehe sie das vertraute Geräusch der sich schließenden Anlage hörte.
Sie berührte behutsam das Gaspedal.
Nichts.
Inna spürte es. Jemand war hier, ganz in ihrer Nähe.
Sie trat erneut auf das Gaspedal, getrieben, energisch, mit weniger Vorsicht. Das Heck des Autos rutschte und rutschte nach rechts und nach links, aber keinen Zentimeter vorwärts.
Sie stieg aus.
Und dann sah sie ihn.
Er stand da und starrte sie an. Mit weit aufgerissenen Augen.
Jenke hatte ihn geschickt.
So musste es sein, entschied Inna.
4
Es war dunkel, still, kalt um ihn herum. Das Einzige, was Jenke wirklich wahrnahm, waren seine Kopfschmerzen. Unaufhörlich pulsierte ein pochender Schmerz von seinem Hinterkopf bis zu den Schläfen.
Er versuchte, darüber nachzudenken, wer er war, wo er sich befand. Nasse Kälte kroch in seine Knochen.
Er entschied, sich nicht zu bewegen.
Schritte.
Ob er in seinem eigenen Urin lag?
5
Was auch immer es war, Marga hatte es heute Morgen zum ersten Mal entdeckt. Ganz hinten lag es auf dem eingeschneiten See und wirbelte ihr vertrautes Bild vom winterlichen Hof durcheinander.
Ein Stein.
Ein besonderer Stein.
Ein leuchtend roter Stein, der zuvor aufgestanden war und sich wenige Meter weiter zu den verschneiten Fichten bewegt hatte, ganz so, als wollte er dort Schutz suchen.
Marga stand regungslos vor dem Küchenfenster und blickte hinaus: Einen solchen Stein hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Sie kaute langsamer, als könnte sie damit hinauszögern, was ihr bevorstand. Keine Ausrede, auch wenn es ihr Bauchschmerzen bereitete, da konnte nicht einmal ein Honigbrötchen helfen.
Vielleicht Gisela? Hatte sie sich über das Eis gewagt und war dort eingeschlafen?
Marga verwarf den Gedanken.
Ein