Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos

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zu unterhalten.«

      »Und worüber?«

      »Über dich. Über dein Leben. Über andere. Über das Leben anderer.«

      »Über das Leben? Über das Leben anderer?«

      »Über Hobbys, Lieblingsfarben, Musikgeschmack. Man fragt sich, wie es geht oder was man am Wochenende vorhat. Man erzählt sich Geschichten aus der Kindheit. So macht man das!«

      »Aus der Kindheit?« Inna hatte verständnislos die Augenbrauen hochgezogen.

      »Zum Beispiel.«

      »Was denn für eine Kindheit?«

      »Herrgott, Inna! Kindheit! Hattest du denn keine? Mit Fingerfarben malen, schwimmen gehen, Sandburgen bauen und von Mauern springen. Hat dir dein Vater nicht das Fahrradfahren beigebracht? Das nennt man Kindheit! Man spielt mit Steinen und malt Bilder, man spielt Verstecken, kriecht in Höhlen und …«

      In diesem Moment hatte Inna ihm ins Gesicht geschlagen.

      »Inna …«, hatte Grunewald entsetzt gestammelt und seine Wange gehalten. »Ich …«

      »Es gibt keine Höhle. Gibt es nicht.«

      Sie holte tief Luft, zögerte, drückte mit klammen Fingern den Knopf der Zentralverriegelung.

      Reden.

      Über das Wochenende. Über die Kindheit.

      Es dauerte einen Moment, dann wurde die Beifahrertür aufgerissen. Der Fremde schob sich mühsam auf den Sitz. Die Autotür fiel zu. Der Knall wirkte bedrohlich, endgültig.

      Kein Zurück mehr.

      Stille. Noch mehr Stille, nur der Sturm heulte in der Eiseskälte wie ein wildes Tier um sein Opfer. Inna hielt den Atem an.

      »Danke«, stöhnte der Mann. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

      Reden.

      Über das Leben. Über die Kindheit. Über das Wochenende.

      »Was machen Sie am Wochenende?«, fragte Inna steif.

      »Wie bitte?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Hier? Was machen Sie hier?«

      »Ich war spazieren. Der Schneesturm hat mich überrascht.«

      »Haben Sie den Wetterbericht nicht gehört?«

      »Sie auch nicht«, spottete der Mann. »Wir könnten die Fußmatten unter die Räder legen.« Der Fremde machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ehrlich gesagt …«

      »Schnee«, sagte Inna schnell. »Sehr viel Schnee.«

      Der Mann nickte. »Ich hatte überlegt zurückzulaufen, aber dann wäre ich drei Stunden unterwegs gewesen, wahrscheinlich länger. Der Sturm ist gewaltig, und es wird schon dunkel.« Er lachte nervös. »Ein Glück, dass Sie mir geöffnet haben.«

      Inna presste ihre kalten Hände um den Lenker. Ein Glück. Ein Glück, dass sie ihm geöffnet hatte. Oder?

      Der Mann lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme, als könnte er damit seine Körperwärme speichern. Er schloss zufrieden seine Augen.

      »Gut«, begann Inna. »Wir schaufeln die Räder frei, wir machen das mit …« Sie fuchtelte mit ihren Händen Richtung Fußraum. »Wir machen das mit diesen Matten.«

      »Und dann?«

      »Und dann.«

      »Wir schaffen es nicht einmal vom Parkplatz, und das hier ist erst der Anfang. Der Sturm wird weiter zunehmen und es wird noch mehr Schnee fallen.«

      »Wir müssen es versuchen.«

      »Wir stecken hier fest. Da hilft nur abwarten.« Der Fremde öffnete seine Augen. »Seien Sie nicht albern.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Geben Sie mir die Schlüssel zu Ihrer Fabrikhalle. Ich möchte nicht erfrieren.« Er räusperte sich. »Sie können ja im Auto bleiben.«

      Inna presste ihre Lippen aufeinander, ihren Blick auf die Mittelkonsole gerichtet. Der Mann langte blitzschnell nach dem Schlüsselbund und stürmte hinaus.

      Sie öffnete ihren Mund, kein Laut kam heraus, nur ihr Atem, der sich feige in die eiserne Finsternis verflüchtigte. Sie zog den Autoschlüssel ab, wartete. Wartete auf einen Impuls, die Tür aufzureißen und in die Kälte zu stürzen. Sie würde sich keuchend durch den Tiefschnee kämpfen, hier und da Gestalten sehen.

      Etwas war ihr aufgefallen. An den Handgelenken des Mannes. Es hatte sie irritiert.

      Der Sturm hämmerte erneut gegen ihre Scheibe. »Seien Sie nicht albern! Kommen Sie da raus, bitte!«, schrie er.

      Kommen Sie da raus.

      Inna nickte.

      Kommen Sie da raus.

      Wie gern wär’ sie damals aus der Höhle gekrochen. Einfach so.

      Sie öffnete die Tür, ließ sich vom Sitz gleiten. Tobende Schneeböen empfingen sie. Der Mann packte ihren Arm, stieß die Tür zu. Sie bückte sich, schützte sich vor den gewaltigen Schneeflocken. Mit großen Schritten stapfte der Fremde durch den tiefen Schnee und zog sie hinter sich her. Wann immer sie stolperte, weil seine Schritte viel zu groß waren, riss er sie hoch und zog sie weiter. Ihr Arm schmerzte. Seine groben Hände bohrten sich durch ihre Jacke. Sie kniff ihre Augen zusammen.

      »Rein hier!«, hörte sie ihn brüllen.

      »Rein hier!«, hörte sie Jenke.

      Inna öffnete ihre Augen einen Spalt, zwängte sich durch die schmale Türöffnung.

      Der Mann stieß sie aus dem Weg, zog die Tür mit einer kräftigen Bewegung zu. Er klopfte seine schwere Jacke ab und stampfte auf den Boden. »Geschafft«, verkündete er erleichtert. »Haben Sie nasse Füße?« Er zeigte auf ihre Turnschuhe.

      Inna wackelte mit den Zehen.

      »Schön warm ist es hier«, bemerkte er.

      Schön warm ist es hier.

      Inna nickte wieder.

      Der Mann zeigte in die Halle. »Viel angenehmer, als die ganze Nacht in Ihrem Auto zu verbringen. Wir haben es warm, wir haben …« Er schaute sich um. »Wir können uns setzen, wir haben einen Weihnachtsbaum.« Er lachte. »Vielleicht sind die Kugeln etwas groß, aber er passt in das spärliche Ambiente.«

      Inna zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

      Menschen.

      Nette Menschen.

      Nette Menschen fragt man nach ihren Hobbys. Oder danach, was sie am Wochenende vorhaben.

      Er reichte ihr seine Jacke, lächelte dankbar. »Ich heiße Igor.«

      Igor.

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