Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos

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Vielleicht. Vielleicht auch nicht, denn eigentlich kam ihr der rote Stein sehr groß vor.

      So groß wie ein Mensch.

      Marga holte ihren Wintermantel, Schneeboots, Mütze. Sie vergewisserte sich, dass der Stein noch an seinem Platz lag. Ihre Augen tränten, so sehr strengte sie sich an, in der Ferne etwas zu erkennen.

      Und ihre Eltern?

      Schliefen.

      Was sollte Marga auch sagen?

      »Sehr weit draußen auf dem See liegt ein Stein.«

      »Ist gut, Marga, und jetzt geh wieder schlafen«, würde Mama gähnen.

      »Der Stein hat sich bewegt. Er ist rot.«

      »Es hat diese Nacht unaufhörlich geschneit. Da ist nichts, Marga, bestimmt nicht.«

      Sie könnte die Polizei rufen.

      Marga schüttelte den Kopf. Herausfinden, was da draußen lag, musste sie schon selbst.

      Sie beeilte sich, die Haustür zu öffnen. Beißende Kälte verschlug ihr den Atem. Gestern war sie noch die Stufen hinunter und über gefrorenes Gras gelaufen. Die Halme hatten knirschend nachgegeben. Wie dünne Glasstäbchen, die unter ihren Tritten zerbrachen. Sie war über tiefe Traktorspuren gehüpft, in denen das Wasser zu Eis gefroren war. Erdklumpen hatten sich daruntergemischt, hässlich und dreckig. Gräser hatten schlaff und träge über die Oberfläche gehangen, abgebrochene Zweige, die zur Hälfte herausragten, gefrorene Blätter unter der Eisdecke.

      Heute nicht.

      Heute gab es überall nur Neuschnee. Weiß, weiß, weiß. Alles war weiß.

      Sie verengte ihre Augen, schützte sie vor der scharfen Kälte, hörte eine Krähe, erst laut, dann immer leiser. Der schwarze Vogel verschwand im Fichtenwald. Marga fröstelte. Dicht und müde lauerten die schweren Äste, beugten sich wie trauernde Halbtote unter der schweren Last des Schnees.

      Sie hörte Gisela. Mit den kurzen Beinchen kam sie aus ihrer Hütte gelaufen.

      »Du kannst nicht mit«, bedauerte Marga. Das Bentheimer Landschwein musste warten. Warten, bis sie wieder zurück war.

      Sie stapfte los.

      Die Schneedecke hatte alles unter sich begraben, auch den See, der unterirdisch schlummerte, lautlos schlief, wie alle anderen.

      Wie alle anderen.

      Alle.

      Nur Marga nicht. Marga war unterwegs auf einer Mission mit ungewissem Ausgang und lief an gepuderten Spinnweben vorbei.

      Sie musste verrückt sein.

      Plötzlich bewegte sich der Stein wieder. Sie blieb stehen, horchte. Ein ungewöhnlich idyllischer Moment, wären da nicht der graue Himmel und die beißende Kälte.

      Wäre da nicht ihr Unbehagen.

      Sie lief weiter, und je näher sie ihrem Ziel kam, desto sicherer war sie. Der Stein war kein Stein und auch kein Dachs. Der Stein war kein Wildschwein, erst recht kein Fuchs. Das, was da hinten auf dem See lag und in der Kälte zu erfrieren drohte, war ganz eindeutig ein Mensch.

      Marga stapfte weiter.

      Nicht sehr entschlossen.

      Sie verlangsamte ihr Tempo, tastete sich vorsichtig heran. Der rote Samtanzug sah schwer und vollgesogen aus. Die schwarzen Stiefel ragten aus dem Schnee wie glänzende Steine.

      Es war unwürdig, den Weihnachtsmann mit dem Fuß anzustoßen, aber sie hatte keinen Stock, wollte den nassen Stoff nicht mit den Händen berühren.

      »Hallo?«, flüsterte sie.

      Sie schlurfte um den regungslosen Körper herum, kam sich schäbig vor, als sie sich weit über ihn beugte und ein schleimiger Pfropf aus ihrer Nase auf seine Schulter tropfte.

      Plötzlich gab der Mann ein stöhnendes Husten von sich. Marga erschrak. Sie trat hastig einen Schritt zurück, hektisch lief sie los, schaute sich um. Sie hatte Angst, der Weihnachtsmann würde hinter ihr herkommen, sie lautlos verfolgen, aber er lag dort.

      Wie tot.

      Es hatte erneut zu schneien begonnen. Harte kleine Flocken wirbelten in Margas Augen. Nirgendwo Fußspuren, die verrieten, aus welcher Richtung er gekommen war.

      Und wenn er Hilfe brauchte?

      Sie blieb stehen, horchte angespannt. Ein Geräusch. Ein leises Knistern. Es schlich sich heran, wurde lauter, zog sich wie ein peitschendes Gummiband an ihr vorbei zum Ufer des gefrorenen Sees. Auf das Knacken der brechenden Eisdecke folgte ein ungeheuerlicher Knall.

      Marga hielt die Luft an, konnte nicht glauben, dass sie das kalte Wasser überleben würde. Sie würde sterben. Genauso elend, wie der Weihnachtsmann sterben würde. Oder wie Kater Otto gestorben war. Oder das Katzenbaby.

      Weihnachten würde ausfallen.

      Für immer und ewig.

      6

      Groß. Eine große, dunkle Gestalt.

      Inna hastete zurück auf ihren Sitz, verriegelte die Türen. Sie keuchte angespannt. Da war niemand. Niemand, der sich hierher verirrt hatte. Die Gestalt existierte nur in ihrer Fantasie, emporgestiegen aus der Essenz ihrer Ängste, ihrer feinen Sinne.

      Ihr Auto wackelte. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen, hob ihren Wagen an, ließ ihn fallen, klopfte an ihre Seitenscheibe. »Machen Sie auf!«, schrie er.

      Inna traute sich nicht, blieb erstarrt in ihrem eingeschneiten Auto sitzen, die Verbindung zur Außenwelt nahm mit jeder weiteren Schneeflocke ab.

      Es klopfte erneut an die Scheibe. Energischer. Lauter. Eher ein Hämmern. »Machen Sie auf!«, schrie der Sturm. »Bitte, machen Sie die Tür auf!«

      Inna hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie schmeckte Blut.

      »Nicht wegfahren! Bitte, reden Sie mit mir!«

      Reden Sie mit mir.

      Reden.

      Sie dachte an Grunewald.

      »Kannst du dich überhaupt unterhalten, Inna? Kannst du? Mal hier und da ein wenig plaudern? Eine verdammte Konversation führen? Ist gut für die Geschäfte«, hatte er vor vielen Jahren lamentiert.

      »Ich arbeite. Das ist gut für die Geschäfte.«

      Grunewald hatte den Kopf geschüttelt. »Menschen können sehr nett sein. Man kann mit ihnen reden. Der gemeine Mensch …«

      »Ich bin …«

      »Du bist kein Mensch. Du bist Statikerin«, hatte Grunewald sie unterbrochen.

      »Ich …«

      »Versuch’s doch mal.«

      »Was

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