Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Die Angst der Schweigenden - Nienke Jos

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Schatten um seine Handgelenke.

      »Gibt es jemanden, der auf Sie wartet? Der Sie heute Nacht vermisst?«, fragte er.

      Jenke. Jenke wartete auf sie.

      Sie ging zu einem der Telefone, wählte Grunewalds Nummer. Kein Freizeichen. Nicht einmal ein Knacken. Sie schluckte. »Grunewald?«, fragte sie in den Hörer, klammerte sich am Schreibtisch fest. »Du musst herkommen.« Sie legte auf, räusperte sich. »Grunewald kommt.« Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Gleich«, log sie.

      Igor lächelte. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt.

      »Dann …« Sie lief gezielt auf den Wasserkocher zu. »Sie wollen vielleicht einen Tee.« Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank. Während der Kocher das kalte Wasser erhitzte, starrte sie auf die Anrichte.

      Fragen.

      Fragen stellen.

      Fragen beantworten.

      Zum Beispiel über das Leben.

      Sie öffnete eine Packung Christstollen.

      »Wenn Sie ein Messer haben?« Igor streckte ihr erwartungsvoll seine Hand entgegen. »Dann kann ich ihn in Scheiben schneiden.«

      Inna schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie, zeigte auf das Sofa am Fenster. »Setzen Sie sich.« Weit genug weg. Bis Grunewald kam.

      Ihr Herz klopfte.

      Grunewald würde nicht kommen. Es gab keinen Grunewald, der sie abholen würde. Es gab überhaupt niemanden.

      Igor schaute zu Boden. »Ich jage Ihnen Angst ein, oder? Nach einem Messer zu fragen, ist nicht sehr hilfreich.«

      »Nein.«

      »Nein«, lachte er. »Das verstehe ich.« Er schlenderte zum Sofa und setzte sich. »Sie heißen Inna.«

      Sie schluckte trocken.

      Und dann hörte sie es wieder. Das unheilvolle Rascheln.

      Igor wusste also Bescheid. Bescheid darüber, dass Grunewald nicht kommen würde. Bescheid darüber, dass sie nicht hatte telefonieren können. Igor wusste Bescheid, weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass die Telefonleitungen tot waren.

      7

      Marga hielt die Luft an.

      Geisterhafte Stille. Nicht ein einziges Geräusch. Regungslos, wie erstarrt, stierte sie zum Hof. »Nicht auf den See, Marga«, hörte sie ihre Mama sagen.

      »Aber ich muss nach den eingefrorenen Schildkröten gucken.«

      »In ein paar Tagen.«

      Marga hatte trotzig ihre Arme verschränkt. »Ich will Schlittschuh laufen.«

      »Übermorgen.«

      »Warum erst übermorgen?«

      »Weil der See erst dann richtig gefroren ist.«

      »Weil der See erst dann richtig gefroren ist«, hatte Marga sie nachgeäfft. »Du versaust mir meine ganzen Ferien. Meine ganzen!«

      »Wenn du den See betrittst, sperre ich dich ein, hörst du, Marga?«

      Marga presste ihre Augen zusammen. Jetzt würde sie einbrechen und erfrieren. Nur, weil sie nicht auf Mama gehört hatte.

      »Mädchen?«, fragte jemand.

      Ein Buchfink flatterte von einem der Fichtenzweige. Marga schaute sich vorsichtig um.

      »Steh nicht so rum.« Der Mann hatte sich aufgesetzt. Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Hilf mir lieber.«

      »Die Eisdecke«, flüsterte sie.

      »Die Eisdecke hat sich nur vom Ufer gelöst.«

      Marga nickte schwach. »Okay«, hauchte sie. »Und bist du wirklich der Weihnachtsmann?«

      »Was bin ich?«

      »Der Weihnachtsmann.« Sie zeigte auf seinen Anzug. »Wo ist dein Rentier? Und dein Schlitten? Und warum hast du keinen Bart?«

      Der Mann hustete.

      »Natürlich gibt es dich nicht, aber wie kommt ein normaler Mensch hierher, ohne Fußspuren zu hinterlassen? Du bist …«

      »Bin ich nicht.«

      »Und aus welcher Richtung bist du dann gekommen?« Sie breitete ihre Arme aus. »Und warum sieht man nichts davon?«

      Der Mann ließ sich schnaufend auf den Rücken fallen, mit ausgebreiteten Armen lag er im Schnee, während um ihn herum weiße Flocken durch die Luft wirbelten und seine rote Jacke verzierten.

      Marga zuckte mit den Schultern. Keine Diskussion mit dem Weihnachtsmann. »Und wirst du einfach da liegen bleiben?« Sie trat dicht an ihn heran und beugte sich über ihn. »Bist du verletzt?«

      Umständlich drehte sich der Mann auf die Seite.

      »Ich kann meinen Papa holen. Er hat einen Unimog. Wir können dich …«

      »Nein«, stöhnte er. »Mich darf niemand sehen.« Er zeigte zum Himmel. »Weihnachtsmänner sind geheim.«

      »Gibt es denn mehrere?«, staunte Marga. Sie winkte ab. »Mein Papa wird nichts sagen.« Sie zögerte. »Außerdem würde er gar nicht glauben, dass du der Weihnachtsmann bist. In meiner Familie glaubt auch niemand an Gott.«

      Der Mann schüttelte den Kopf. »Dein Papa darf nicht herkommen. Niemand darf das.«

      Marga zuckte ratlos mit den Schultern. »Und was jetzt?«

      »Ich muss mich eine Weile verstecken.«

      »Verstecken?«

      »Ich bin …« Er fuchtelte mit seiner Hand durch die Luft. »Vom Himmel gefallen. Abgestürzt. Mich darf niemand sehen.«

      Marga schaute verständnisvoll. »Und wie lange?«

      »Ein paar Tage. Dann bin ich wieder …« Der Mann zupfte an seiner nassen Jacke. »Dann bin ich wieder unsichtbar.«

      »Klar.« Marga nickte. »Ich helfe dir.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Wo willst du dich denn verstecken?«

      Der Mann stützte sich ab. »Bei drei.« Er reichte ihr seine Hand. »Eins, zwei, …«

      »Ich habe mich vertan«, unterbrach Marga und zog ihre Hand hektisch wieder zurück. »Du musst alleine aufstehen«, entschied sie. »Ich muss das auch immer. Mama sagt, es ist gut fürs Leben.«

      »Oh Gott.«

      »Gott gibt es nicht.«

      Der Mann atmete geräuschvoll aus. »Ich muss mich trotzdem verstecken. Das hast du doch verstanden?«

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